Die Amerikanerin
gewundert. Warum versuchte er nicht, in den Besitz des Büchleins zu gelangen? Warum versuchte er nicht ernsthaft, Wanda zum Schweigen zu bringen? Auf welche Art, darüber mochte sie gar nicht nachdenken … Schließlich kam ihr der Verdacht, dass es dem Conte gar nicht recht sein konnte, in seiner verzwickten Lage auch noch mit einem neugeborenen, mutterlosen Mädchen belastet zu sein.
Sollte sie Sylvie doch mitnehmen, zum Teufel noch mal, hatte er gemurrt und ihr einen Handel vorgeschlagen: Sylvie gegen Maries Tagebuch. Wanda hatte rasch zugestimmt, und der Conte war losgezogen, um wegen der Papiere im Genueser Rathaus einen Beamten unter Druck zu setzen. Vielleicht war gar nicht allzu viel Druck nötig gewesen – laut Maries Unterlagen gab es schließlich genug bestechliche Beamte. Kurz darauf hielt Wanda jedenfalls einen Geburtsschein in der Hand, der besagte, dass Sylvie ihre Tochter war, geboren während ihres Aufenthalts bei der Familie de Lucca. Mit dieser Art Übergangslegitimation würde Wanda ins Lauschaer Amt gehen müssen. Oder war Sonneberg zuständig? Sie wusste es nicht. Und dann? Unter welchem Namen sollte Sylvie aufwachsen? Wer sollte … Unwillig schüttelte sie den Kopf, als wolle sie sich von einer lästigen Fliege befreien. Nicht zu viel denken.
Ob und wie viel der Arzt, der Priester und die Hausangestellten von dieser Täuschung wussten und ob der Alte ihnen ebenfalls Schweigegeld hatte zahlen müssen, interessierte Wanda ebenfalls nicht. Die de Luccas lebten in ihrem Netz aus Lügen, und sie würden sich immer weiter darineinspinnen – sie hatte lediglich das getan, was getan werden musste.
Ein Schritt nach dem anderen. Erst einmal musste sie das Kind nach Lauscha bringen. Und es gab niemanden, der ihr helfen konnte.
Sosehr Wanda sich nach Richard sehnte, nach seinen breiten Schultern, an die sie sich hätte lehnen können – sie durfte jetzt nicht an ihn denken. Er würde sich wahrscheinlich Sorgen machen, wenn sie nicht wie vereinbart in Venedig erschien. Aber auch daran durfte sie jetzt nicht denken. Sie würde Richard alles erklären, wenn er wieder in Lauscha war.
Die Einreisebeamten waren inzwischen im Nachbarabteil angelangt. Wanda glaubte, sie an ihrer gestelzten Redensart zu erkennen. Ihr Herz klopfte heftig. Ruhig bleiben, an etwas anderes denken.
Hätte der Conte ihren Drohungen auch dann nachgegeben, wenn das Kind ein Junge gewesen wäre? Einen kleinen Grafen hätte er vielleicht doch nicht gehen lassen. So hatte er lediglich darauf bestanden, dass Wanda eine Erklärung unterschrieb, mit der Sylvie auf sämtliche Ansprüche gegenüber den de Luccas verzichtete. Wanda hatte unterzeichnet. Erst als die Tinte zu trocknen begann, kam ihr der Gedanke, dass sie womöglich leichtfertig gehandelt hatte. Mit ihrer Unterschrift hatte sie Sylvie jedes Recht auf einen Erbteil des De-Lucca-Vermögens genommen. Unruhig fragte sich Wanda, was die in Lauscha dazu sagen würden. Wahrscheinlich würde es heißen, sie, Wanda, hätte sich von Francos Vater über den Tisch ziehen lassen. Aber nun war es eben geschehen. Und die anderen waren nicht dabei gewesen, als Marie sie anflehte, rechtfertigte sich Wanda stumm. Marie hatte ganz klar gesagt, dass sie nicht wollte, dass ihre Tochter unter dem Einfluss von Francos Familie aufwuchs.
Dazu zählte doch auch die finanzielle Seite, oder?
Von Patrizia war mehr Widerstand gekommen als erwartet. Immer wieder hatte sie Wanda angefleht, Sylvie bei ihnen zu lassen. Wie sollte sie Franco nach seiner Rückkehr erklären, dass seine Tochter in einem fremden Land aufwachsen würde? Er, den man noch nicht einmal von Maries Tod hatte unterrichten können, würde ihr das nie verzeihen.
Was für eine schreckliche Frau! Nicht einmal nach Maries Tod hatte sie ein schlechtes Gewissen gehabt.
»Hätte Marie zu ihrem Mann gestanden, wie es sich für eine Ehefrau gehört, wären diese drastischen Maßnahmen gar nicht nötig gewesen. Doch als Franco ihre Unterstützung am meisten benötigt hätte, wollte sie ihn verlassen«, hatte die Contessa mit bebender Stimme festgestellt und Wanda das Gefühl vermittelt, dass sie Marie das noch immer nicht verziehen hatte.
Franco tut mir leid, dachte Wanda, während sie ihren Pass aufschlug. Franco war ein Opfer des Lügengeflechts. Nun, natürlich war er auch Täter, daran ging kein Weg vorbei. Wie konnte man sich so in einem Menschen täuschen! Ihren schönen Italiener, hatte Marie ihn genannt.
»Guten Tag,
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