Die Amerikanerin
riskieren. Trotzdem blieb sie beharrlich, weil sie hoffte, Sylvies Nähe könne Maries Genesung irgendwie beschleunigen.
Es stellte sich heraus, dass alle mit der neuen Lösung zufrieden waren: Der Amme machte es nichts aus, das Kind im Zimmer der kranken Mutter aufzusuchen, ihre Milch floss nach wie vor. Der Säugling schlief die meiste Zeit, und Marie konnte ihr Kind in den Arm nehmen, wenn sie wach warund sich stark genug fühlte. Das waren die schönen Momente, in denen Wanda Kraft tankte und die Hoffnung hegte, dass alles gut werden würde.
Anfänglich stand Patrizia die ganze Zeit wie ein Wachhund an der Tür und beobachtete mit Argusaugen das Krankenbett. Erst als Wanda ihr klipp und klar sagte, dass sie nicht eher gehen würde, bevor Marie wieder wohlauf war, ließ Patrizia sie wenigstens in den Zeiten allein, in denen Marie schlief oder fantasierte. Jedes Mal hatte Wanda das Gefühl, sofort freier durchatmen zu können.
Patrizias Verhalten war in höchstem Maße seltsam. Auf den ersten Blick machte sie den Eindruck einer beunruhigten Schwiegermutter, die sich Sorgen um die Mutter ihrer Enkelin machte. Doch auf Wanda wirkte es, als wolle die Contessa jeden wachen Moment von Marie kontrollieren: Wann immer ihre Schwiegertochter die Augen aufschlug und sie sich unterhalten wollten, kam Patrizia ins Zimmer, als hätte sie vor der Tür gelauscht oder eine Hausangestellte damit beauftragt. Immer brachte sie etwas für Marie mit: einen Krug Limonade oder frisches Wasser und Tücher für kalte Umschläge oder frische Wäsche. Nie etwas für Wanda. Es war, als wollte sie sie geradezu zwingen, für einen Imbiss in die Küche zu gehen. Was Wanda nur selten tat, denn die Angst um Marie füllte ihren Magen vollkommen aus.
Mehr als einmal hatte sie das Gefühl, dass Marie ihr dringend etwas mitteilen wollte. Doch der Eindruck verflüchtigte sich, sobald Patrizia den Raum betrat. Lediglich eine gewisse … Dringlichkeit blieb dann in Maries Blick zurück. Aber sie konnte Patrizia schließlich nicht in ihrem eigenen Haus aus dem Zimmer werfen! So blieb Wanda nichts anderes übrig, als auf eine Möglichkeit zu einem Gespräch unter vier Augen zu warten und die vielen Fragen, die ihr selbst auf der Zunge brannten, auf später zu verschieben:
Warum hast du mir seit Monaten nicht mehr geschrieben? Ist unser erstes Paket mit den Babysachen überhaupt angekommen? Warum schaut dein Schwiegervater bei jedem Besuch im Krankenzimmer drein wie die Schlange, die das Kaninchen verschlingen will? Und warum in aller Welt meldet sich der Kindsvater nicht? Deine Schwiegermutter hat mir nur gesagt, dass Franco in New York ist. In New York? Während du dein erstes Kind bekommst?
Doch immer wenn Marie sich in den wenigen wachen Momenten unterhalten wollte, fiel Patrizia ihr ins Wort.
»Das Sprechen strengt dich viel zu sehr an, denk daran, was der Dottore gesagt hat!« Und zu Wanda sagte sie: »Es ist unverantwortlich, Marie in ihrem Fieberwahn Fragen zu stellen! Sehen Sie nicht, dass sie nur fantasiert?«
Den Eindruck hatte Wanda eigentlich nicht, sie konnte sehr wohl unterscheiden zwischen den Zeiten, in denen Marie in fiebrige Welten entrückt war, und den Momenten, in denen sie klar denken konnte. Im Stillen nannte sie Patrizia den Drachen, der die Höhle bewachte, in der Marie gefangen war. Wie nahe sie mit ihrem Sinnbild der Wahrheit kam, sollte sie erst noch erfahren.
Mit jeder Stunde wuchs ihre Abneigung gegen Maries Schwiegermutter. Wenn der Drachen Marie schlecht oder nachlässig behandelt hätte, hätte sie, Wanda, ihre Aversion vielleicht genauer benennen können. Doch jeden Morgen gab es frische Bettwäsche, das hatte sie nun schon zweimal beobachten können. Leichte, vitaminreiche Speisen wurden serviert, die Kanne mit Tee an Maries Bett war stets frisch gefüllt – Patrizia war nicht das Geringste vorzuwerfen. Sie sorgte außerdem dafür, dass der Arzt zweimal täglich kam. Dann musste Wanda das Zimmer verlassen. Sie hätte gern mit dem Mann geredet, doch er sprach weder Deutsch noch Englisch und sie nur wenige Worte Italienisch. Aber sein ernster Blick beim Verlassen des Zimmers sagte Wanda auchso, dass es schlecht um ihre Tante stand. Das Fieber sei die größte Sorge, antwortete Patrizia jedes Mal, wenn Wanda sie fragte, was der Arzt gesagt habe. Der Riss, der bei der Geburt entstanden war und den man hatte nähen müssen, war entzündet und hatte nun trotz Wundversorgung auch noch zu eitern begonnen. Das durch
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