Die Amerikanerin
müssen?«, fragte Marie neugierig. Ihr fiel plötzlich auf, dass sie über die näheren Umstände von Ruths Ausreise ziemlich wenig wusste.
»Um Gottes willen, nein!« Ruth winkte ab. »Zum einen kamen damals ja nicht so viele Menschen wie heute. Und zum anderen hatte ich doch meine Papiere …« Unwillkürlich begann sie zu flüstern, obwohl der Taxifahrer gewiss kein Deutsch verstand.
Marie kicherte. »Freifrau Ruthwicka von Lausche – es hat dich doch sicher der Schlag getroffen, als du gesehen hast, dass Stevens Passfälscher dich geadelt hatte, oder?«
Ruth grinste und ähnelte für einen Moment wieder dem abenteuerlustigen jungen Mädchen, das vor vielen Jahren bei Nacht und Nebel Lauscha und ihren Mann verlassen hatte.
Marie wusste heute noch nicht genau, woran Ruths Ehe mit Thomas Heimer, einem Glasbläsersohn, letztendlich gescheitert war – Ruth war anfänglich so verliebt gewesen! Doch eines Tages war sie mit Sack und Pack und ihrer drei Monate alten Tochter Wanda in ihr Elternhaus zurückgekehrt. »Zu dem gehe ich nie mehr!«, hatte sie hervorgestoßen und darüber hinaus keine weitere Erklärung abgegeben. Johanna und Marie war nichts anderes übriggeblieben, als das zu akzeptieren.
»Der Titel hat mir jedenfalls nicht geschadet«, sagte Ruth nun. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie zuvorkommend die Leute mich von Anfang an behandelt haben! Was natürlich auch daran lag, dass ich in Stevens Begleitung war. Trotzdem …« Ihr Blick wurde nachdenklich. »Wohl war mir nicht mit den gefälschten Papieren. Im ersten Jahr war es ganz schlimm. Wann immer es an der Tür klingelte, habe ich gedacht: Jetzt kommen sie und holen dich!« Sie seufzte. »Als Thomas dann endlich der Scheidung zustimmte und Steven und ich heiraten konnten, fiel mir ein ganzer Felsbrocken vom Herzen! Seit ich Stevens Frau bin, fühle ich mich wie ein anderer Mensch.«
»Seltsam – irgendwie habe ich damals ziemlich wenig von alldem mitbekommen«, antwortete Marie beschämt.
Ruth lachte nur. »Und das findest du seltsam? Du hast doch Tag und Nacht nichts anderes im Kopf gehabt als deine Christbaumkugeln!« Dann zeigte sie aus dem Autofenster. »Schau, nun kreuzen wir die Avenue of the Americas. Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis wir da sind.« In kurzen Worten erklärte sie Marie das System der vertikal verlaufenden Avenues und der horizontalen Straßen, das aus dem Hexenkessel Manhattan ein überschaubares Dorf machte.
»Ach, ich kann es kaum erwarten, dir alles zu zeigen!«, rief sie aus. »Warte nur ab, was ich mir alles für dich ausgedacht habe. Wir werden jede gemeinsame Stunde genießen!«
Maries Verblüffung war groß, als das Taxi inmitten einer der Straßenfluchten hielt. » Hier wohnst du?«
»Unser Apartment liegt im obersten Stockwerk«, erwiderte Ruth mit Stolz in der Stimme, während sie mit dem Zeigefinger vage auf die Spitze eines schlanken Wolkenkratzers vor ihnen zeigte. »Jetzt sag bloß, du hast auch nicht mitbekommen, dass wir vor einem Jahr umgezogen sind!«
»Doch, doch, aber ich habe gedacht, jemand, der so wohlhabend ist wie dein Steven, würde in einem Haus wohnen …«
»Falsch!«, trumpfte Ruth auf. »Wer richtig viel Geld hat, zieht heutzutage in die Fifth Avenue. Schon jetzt kann ich mir nicht mehr vorstellen, jemals woanders gelebt zu haben! Steven und ich gehörten zu den Ersten, die erkannt haben, welche Vorteile es bringt, wenn man mitten in der Stadt wohnt: Für ein Apartment brauchst du weniger Angestellte, hast es näher zum Einkaufen oder in die Oper, musst dich um keinen Garten kümmern … Ich sage dir: Es dauert nicht mehr lange, dann werden alle ihre Häuser verlassen! Schon heute wird unsere Avenue die Millionaires Row genannt, also die Straße der Millionäre.« Sie schnipste mit den Fingern, und der Taxifahrer folgte ihr mit Maries Gepäck durch das elegante Portal. Marie trottete hinterher – und blieb im nächsten Moment wie vom Blitz getroffen stehen.
»Das gibt’s doch nicht!« Fassungslos schaute sie sich um. Hunderte Quadratmeter roter Marmorboden wurden von goldgesprenkelten schwarzen Granitbänken gesäumt, hinter denen riesige Palmen wuchsen. Über die komplette Rückwand der Eingangshalle zog sich ein Aquarium, in dem Fische in allen Regenbogenfarben zwischen Korallen und bizarren Pflanzen ihre Runden drehten. Während Marie fast damit rechnete, dass ihr im nächsten Moment ein Papagei auf die Schulter geflogen kam, öffnete ein Page die Tür zum
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