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Die Amerikanerin

Die Amerikanerin

Titel: Die Amerikanerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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Fahrstuhl. Eher zögerlich folgte Marie ihrer Schwester in denviereckigen Messingkäfig, der gleich darauf nach oben zu gleiten begann.
    »Na, das ist doch was, oder?« Ruths Augen funkelten amüsiert. »So etwas bekommst du weder in Paris noch in London zu sehen. Apartmenthäuser dieser Art sind eine New Yorker Erfindung. Ich kann es kaum erwarten, dir mein kleines Reich zu zeigen.«
    Marie verspürte einen leichten Schwindel, doch sie schob dies auf die rasante Fahrt im Fahrstuhl.

    Ruths und Stevens Apartment war nicht weniger luxuriös als die imposante Eingangshalle. Ein langer Flur führte links und rechts in ein Meer von geräumigen Zimmern, allesamt mit feinsten Mahagonimöbeln, chinesischen Teppichen und gefütterten Seidenvorhängen ausgestattet. Das Gästezimmer samt angrenzendem Badezimmer, das Marie bewohnen sollte, war von der Decke bis zum Teppichboden in einem pastellfarbenen Grün gehalten. Auf der Frisierkommode lag ein nagelneues Set aus Kamm, Bürste und Spiegel, daneben ein ganzes Arsenal an Töpfchen und Tiegeln, deren Anblick allein Marie nervös machte. Probeweise setzte sie sich auf das riesige Bett, ehe ihr Blick auf einen Stapel Damenzeitschriften auf ihrem Nachttisch fiel. Die Art, in der sie fächerförmig ausgebreitet waren, erinnerte mehr an ein Kunstwerk als an Lesestoff. Du meine Güte – wen glaubte Ruth zu Besuch zu haben? Eine Operndiva?!
    Marie wusch sich nur kurz Gesicht und Hände – eine »maid« würde ihr Gepäck auspacken, hatte Ruth gesagt –, dann machte sie sich auf die Suche nach ihrer Schwester.
    Während das Geräusch ihrer Schritte von den fast knöchelhohen Teppichen, die die ganze Länge des Flurs bedeckten, aufgesaugt wurde, musste Marie unwillkürlich daran denken, wie Ruth in ihrer Jugend die Treppenstiege in ihrem Haus mit Bienenwachs auf Hochglanz gebracht hatte.

    Nach dem frühen Tod ihrer Mutter hatten die drei Schwestern sich die Arbeiten im Haus und in der Werkstatt aufgeteilt – Ruth war für das Kochen und einen Großteil der Hausarbeit zuständig gewesen, und so hatte man sie selten ohne einen Putzlumpen oder ein Kartoffelmesser in der Hand gesehen. Sie hatte nie über die viele und meist beschwerliche Arbeit gejammert, aber schon als junges Mädchen hatte sie davon geträumt, einmal einen Prinzen kennenzulernen, der sie in sein Schloss entführen würde. Damals hatten Johanna und Marie Ruths Gerede für Hirngespinste gehalten. Die Erinnerung ließ Marie lächeln. Wer hätte je gedacht, dass Ruths Schloss einmal in der Fifth Avenue in New York liegen würde …
    Vorsichtig linste Marie durch die nächste Tür auf der rechten Seite. Noch eine Art gute Stube, diesmal in Rottönen gehalten, doch wie bei den drei Zimmern, in die sie zuvor schon geschaut hatte, war auch hier alles dunkel und verlassen. Zu ihrer Erleichterung hörte sie jedoch nebenan Geschirr klappern, und auch den Geruch von Kaffee glaubte sie wahrzunehmen. Ruths Salon, endlich! Doch als Marie die nächste Tür öffnete, stand sie in einer winzigen Küche, wo eine Köchin mit roten Wangen mehrere Töpfe auf dem Herd beaufsichtigte.
    »Hello, my name is Lou-Ann. Can I help you?«, fragte sie, während sie im selben Moment eine Kasserolle schwungvoll vom Herd zum Abkühlen auf eine Marmorplatte hievte. Ohne innezuhalten ging sie zum Fenster und öffnete es, damit der Suppengeruch abziehen konnte. Als Nächstes zog sie ein Blech mit Keksen aus dem Ofen, die den Duft verströmten, den Marie schon im Nebenzimmer wahrgenommen hatte. Suppe und Siedfleisch, Kekse und Kaffee – all diese Gerüche wirkten auf einmal so anheimelnd auf Marie, dass sie sich nichts mehr wünschte, als mit einem Keks in der Hand und einem Glas Milch einen Moment lang hier bei Lou-Ann sitzen bleiben zu können.
    Im letzten Zimmer am Ende des Ganges aber wartete Ruth schon ungeduldig mit Tee und Kuchen auf sie.
    »Da bist du ja endlich! Ich dachte schon, du wärst vor lauter Müdigkeit eingeschlafen. Keine Sorge, du kommst noch bald genug ins Bett. Steven hat mir versprochen, früher aus dem Büro zu kommen, damit wir zeitig das Abendessen einnehmen können. Er kann es kaum erwarten, dich endlich zu sehen!«
    »Ich freue mich auch auf ihn – dein Steven ist ein wirklich feiner Kerl!«, erwiderte Marie. »Ich glaube, das letzte Mal habe ich ihn bei der Einweihung des Lagers in Sonneberg gesehen.«
    Im Gegensatz zu Ruth war Steven anfänglich – als er noch für Franklin Woolworth gearbeitet hatte – jedes

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