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Die Amerikanerin

Die Amerikanerin

Titel: Die Amerikanerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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sie über den Ärmel von Ruths Kostüm aus tiefblauer Seide.
    Im ersten Moment hätte sie ihre Schwester fast nicht wiedererkannt. Natürlich hatten sie sich ab und an Fotografien geschickt, aber kein Bild der Welt hätte sie auf die Eleganz vorbereiten können, die Ruth mit ihren achtunddreißig Jahren ausstrahlte. Ihre Aufmachung war so schlicht wie edel – nichts erinnerte mehr an das junge Mädchen von einst, das sich lieber eine Glasperlenkette zu viel als zu wenig umgehängt hatte.
    »Mir geht es ja auch wunderbar.« Selbst Ruths Lachen hatte eine elegante Note. »Aber keine Sorge, ab morgen werden wir uns ausschließlich um dich und dein Wohlergehen kümmern.« Stirnrunzelnd zupfte sie an Maries Kleid. »Als Erstes werden wir dich neu einkleiden – deine alten Sachen kann man ja wirklich nicht mehr ansehen. Wahrscheinlich muss ich sogar froh sein, dass du nicht eine deiner berüchtigten Hosen angezogen hast!«
    Während Marie hinter ihrer Schwester in das Auto stieg, beschloss sie verschämt, für sich zu behalten, dass sie ihr Kleid extra für New York gekauft hatte. Hinausgeworfenes Geld!
    Langsam fuhr der Wagen an. Marie starrte aus dem Fenster. »Ich bin in New York – ist das nicht verrückt?« Sie lachte ausgelassen.
    »Und das hättest du schon viel früher sein können. Die Finger habe ich mir wund geschrieben, um eine von euch beiden hier herüberzulocken, aber hat es etwas gebracht?!« Ruths Empörung war nur zum Teil gespielt.
    Marie wollte Ruths Hände am liebsten gar nicht mehrloslassen. »Meine Güte, wie viele Jahre haben wir uns nicht gesehen?«
    »Wanda war gerade ein Jahr alt, oder … ach verflixt, ich bin so aufgeregt, dass ich nicht klar denken kann!«, rief Ruth und strich sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
    »Siebzehn Jahre sind seitdem vergangen, kannst du dir das vorstellen? Mir kommt es vor, als redeten wir von einem anderen Leben.«
    Nun stiegen auch Marie die Tränen in die Augen.
    »Du weißt doch, wie es bei uns daheim ist: immer viel zu tun, immer ein Paar Hände zu wenig!«, schniefte sie. »Aber jetzt bin ich ja hier. Und ich bin so froh darüber!« New York verschwamm vor ihren Augen.
    Nichts hatte sie auf die Innigkeit dieses Augenblicks vorbereitet. So seltsam es klang, aber die große Wiedersehensfreude war für Marie fast eine Überraschung. Natürlich liebte sie ihre Schwester, doch sie waren schon als junge Mädchen zu verschieden gewesen, als dass es mehr als die üblichen familiären Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gegeben hätte – Ruth war ihren Weg gegangen und Marie einen anderen, soweit das in ihrer häuslichen Enge möglich gewesen war.
    »Davon abgesehen hättest ja auch du uns besuchen können!«, sagte sie, nachdem sie ihre Tränen getrocknet hatte. Erschrocken wich sie gleich darauf zurück, als ein anderer Wagen bis auf Haaresbreite an den ihren herankam.
    Für einen kurzen Moment verdunkelte sich Ruths Miene. »Du weißt doch, dass das nicht so ohne weiteres möglich war. Dafür verging kein Tag, an dem ich nicht an euch gedacht habe! Aber jetzt erzähl: Wie war die Überfahrt?«
    Marie erzählte von Gorgi und davon, dass sie diese während ihres Aufenthaltes einmal besuchen wollte.
    Ruth schien sich jedoch nicht besonders für Maries Reisebekanntschaft zu interessieren. »Und die Einreise lief ohne Komplikationen ab?«
    Marie nickte. »Die Beamten sahen zwar ziemlich streng aus, und einer von ihnen hat sogar meine Handtasche durchwühlt. Aber das war’s auch schon. Danach durfte ich durch die Schranke gehen.« Sie lachte kurz auf. »Du hättest einmal die Immigranten sehen sollen, wie aufgeregt die waren! Kaum waren wir an der Freiheitsstatue vorbei, haben sie nichts anderes mehr getan, als sich gegenseitig aufgeregt in die Augen zu starren. Gorgi hat mir erzählt, dass sie panische Angst vor einer Augenkrankheit haben. ›Trachoma‹ oder so ähnlich – wer daran leidet, wird zurückgeschickt. Hast du davon schon gehört?«
    Ruth nickte. »Es ist schon recht, dass sie genau kontrollieren, wer ins Land kommt. Ansteckende Krankheiten können wir nämlich nicht gebrauchen. Du musst dir vorstellen, dass jeden Tag mehr als elftausend Leute hier ankommen! Jeder nur ein Bündel Lumpen unter dem Arm, und alle erwarten sie Wohlstand und Reichtum! Dafür ist die ganze Prozedur in der Einwanderungsbehörde doch ein Klacks. Nach vier bis fünf Stunden ist alles vorbei und die neue Welt wartet!«
    »Hast du damals auch über Ellis Island einwandern

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