Die Amerikanerin
schien sie sich des Gastes bewusst zu werden und wandte sich Marie zu.
»Tante Marie, ich freue mich, dich kennenzulernen«, sagte sie mit gespielt artiger Höflichkeit. Steif streckte sie ihre Hand aus.
Maries von Hornhaut und Schwielen gehärtete Finger griffen nach der weichen Mädchenhand.
Ihre Blicke trafen sich. Aus Wandas wasserblauen Augen sprühten Funken wie bei einer Wunderkerze, herausfordernd und amüsiert, als lache sie heimlich über einen Witz.
Kleines Luder! Mit übertriebener Heftigkeit schüttelte Marie Wandas Hand.
»Keine Angst, ich beiße nur in den seltensten Fällen.«
5
Warum hatte er es nicht geschafft, eine Stunde früher ins Casa Verde zu kommen! Ärgerlich schaute Franco zur Theke, um die sich die Gäste inzwischen in Dreierreihen drängelten. Wie gewöhnlich um diese Zeit war das Ristorante völlig überfüllt – Schichtwechsel in den umliegenden Kleiderfabriken. Obwohl längst alle Tische besetzt waren, ging ständig die Tür auf, und es strömten noch mehr Italiener herein, die das letzte Drittel ihrer Zehnstundenschicht mit Visionen von einem Teller dampfender Pasta, einem Glas Wein und einem Lächeln von Giuseppa, der Tochter des Wirts, hinter sich gebracht hatten.
Resigniert lehnte sich Franco zurück. Bei diesem Andrang sah es nicht danach aus, als ob Paolo in der nächsten halben Stunde Zeit für ihn finden würde. Dabei hatte er sich vorgenommen, heute noch mindestens drei weitere Wirte zu besuchen!
Ein Johlen am Nachbartisch, wo für drei Neuankömmlinge unter umständlichem Stühlerücken Platz geschaffen wurde, ließ Franco aufschauen. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte er, dass es allesamt Wirte aus umliegenden Ristorantes waren. Und sie alle waren Kunden von ihm. Eine Art Stammtisch also, auch das noch! Nun würde es nicht mehrlange dauern, bis ihm die nächste Beschwerde serviert wurde – als ob er davon heute nicht schon genug zu hören bekommen hätte!
Demonstrativ setzte Franco eine abweisende Miene auf, als ihm plötzlich eine heiße Woge Knoblauch direkt in die Nase stieg. Im nächsten Moment stellte Giuseppa einen Teller Pasta vor ihm ab. Um beschäftigt zu wirken, vergrub er seine Gabel darin, obwohl er nicht im Geringsten hungrig war.
Am Nebentisch wurde jeder Krug Wein, den Giuseppa brachte, mit Getöse gefeiert.
Auch gut – wenn sie sich betranken, würden sie ihn wenigstens in Ruhe lassen.
Franco ließ die Gabel sinken. Er war müde. Noch nie war ihm ein Aufenthalt in New York so anstrengend vorgekommen wie dieses Mal. Wohin er auch kam – überall gab es nichts als Probleme, darin glich der heutige Tag den vorangegangenen aufs Haar. Und jeder erwartete, dass er einem Zauberer gleich die Lösung für das jeweilige Ärgernis aus der Tasche zog.
Schon im ersten Ristorante , das er am späten Vormittag aufgesucht hatte, war es losgegangen: Silvester Forza, der Wirt, hatte sich geweigert, zwei der fünf an ihn vermittelten Hilfskräfte einzustellen, weil sie ihm zu alt waren. Franco hatte die beiden daraufhin rufen lassen und festgestellt, dass sie gerade einmal Anfang dreißig sein konnten. Was wollte Silvester? Kinder?! Gereizt hatte Franco angeführt, dass es der alte Conte bestimmt nicht gern sehen würde, wenn Silvester einen Aufstand machte wie eine Jungfrau in der Hochzeitsnacht. Und ob es irgendwo jemanden gäbe, der günstigere Arbeitskräfte vermittelte? Was Silvester natürlich hatte verneinen müssen.
Kurz danach hatte Franco die nächste Hiobsbotschaft zu hören bekommen: Ausgerechnet Michele Garello, dem fünfder besseren Restaurants gehörten, waren gleich drei der an ihn vermittelten Burschen nach der ersten Woche davongelaufen. Garello hatte nicht viele Worte gemacht: Entweder er bekam mit der nächsten Lieferung Ersatz für die drei oder er wollte sein Geld zurück. »Sag deinem Vater, wenn’s sein muss, such ich mir meine Leute eben hier aus! Die paar Dollar Lohn, die ich dann mehr zahlen muss, machen mich auch nicht arm«, hatte er hinzugefügt.
Verflucht! Dem alten Conte hätte er das sicher nicht ins Gesicht gesagt!
Auch bei Francos nächsten Kunden hatte nicht gerade eitel Sonnenschein geherrscht: Der eine hatte über zu hohe Abnahmemengen geklagt und behauptet, seine Kundschaft würde mehr aus Biertrinkern bestehen. Natürlich war es ihm nur um einen Preisnachlass gegangen, denn kaum hatte Franco einen solchen eingeräumt, waren die Biertrinker plötzlich kein Thema mehr gewesen. Der nächste Wirt hatte Probleme mit
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