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Die Amerikanerin

Die Amerikanerin

Titel: Die Amerikanerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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Salonpüppchen zu machen, welches dir anscheinend als ideale Tochter vorschwebt«, sagte Marie ironisch. Sie gab Ruth einen kleinen Schubs. »Und jetzt lass uns nochmals meine Vokabeln von gestern durchgehen, ich will mich später nämlich an das nächste Kapitel in meinem Englischbuch machen.«
    Ruth stöhnte. »Nicht schon wieder! Können wir unsere Übungsstunde nicht ausnahmsweise ausfallen lassen? Du sprichst doch schon ganz wunderbar!«
    »Aber ich will auch alles verstehen! Und daran hapert es eben immer noch«, erwiderte Marie und schlug stoisch ihr Wörterbuch auf.
    *
    Den ganzen Tag hatte sie sich die Hacken abgelaufen. Eine Sekretärinnenstelle ganz in der Nähe von Harolds Bank – Wanda hatte sich schon ausgemalt, wie sie sich jeden Mittag zum Essen treffen würden. Eine andere Stelle war bei der städtischen Schulbehörde frei gewesen, wo sie für die Ausgabe von Büchern an bedürftige Kinder zuständig gewesen wäre. Als Letztes dann eine Stelle als Rezeptionistin im Waldorf Astoria – alles vergeblich. Kaum hatten die Herren in den grauen Anzügen die Verbindung zwischen ihrem Namen und Miles Enterprises hergestellt, war sie ihnen augenblicklich zu jung gewesen. Oder die Stelle war plötzlich schon vergeben. Lediglich im Waldorf Astoria hatte man ihr klipp und klar gesagt, dass man mit »jungen Damen aus ihrem Umfeld« keine guten Erfahrungen gemacht habe – diese hätten vor allem mit den an- und abreisenden Gästen geflirtet, statt sich der Arbeit zu widmen. Wanda hatte es sich erspart zu erwidern, dass sie ihre Arbeit sehr wohl ernst nehmen würde, wenn man sie nur ließe!
    Nach diesem frustrierenden, ergebnislosen Tag waren nun ihre Knöchel geschwollen, ihre Beine schmerzten, und die Wut in ihrem Bauch tat auch weh. Am liebsten hätte sie sich für den Rest des Abends in ihrem Zimmer verkrochen. Andererseits bekam sie Tante Marie sowieso schon sehr wenig zu sehen – so wie Mutter sie in Beschlag nahm! Und Hunger hatte sie auch. Also saß sie verstimmt mit ihren Eltern und Tante Marie am Abendbrottisch, wo Lou-Ann mit glänzenden Augen einen eigens auf Maries Wunsch und nach deren Angaben gekochten Kartoffelauflauf servierte. Während ihre Mutter argwöhnisch die knusprige Käsehaube beäugte und schützend ihre Hand über den Teller hielt, bevor Lou-Ann mehr als ein Löffelchen darauftun konnte, ließ sich Wanda gleich zwei Portionen geben. Nun, mal sehen, was man in Thüringen hinter den sieben Bergen so zu sich nahm.
    »Schaut mal, was ich mir heute gekauft habe! Einen Stadtführer von New York! In Englisch.« Stolz zog Marie ein Buch aus ihrer Hosentasche und gab es Steven.
    Noch immer wunderte sich Wanda, wie ihre Tante es geschafft hatte, gleich in der zweiten Woche Mutters Kleiderordnung zu umgehen, doch irgendwie war es ihr gelungen. Zumindest zu Hause trug sie Hosen und dazu enge, taillierte Oberteile, die geschnitten waren wie ein Herrenhemd, an der Knopfleiste entlang und an den Ärmelbündchen jedoch mit Rüschen verziert. In ihrer Beinkleidung sah Marie so verwegen aus, dass Wanda sich an die Geschichte der drei Musketiere erinnert fühlte. Gern hätte sie auch einmal …, doch das würde Mutter nie zulassen! Nicht bei ihr.
    »Was für eine gute Idee! Eigentlich hättest du gleich von Anfang an einen City Guide haben sollen«, sagte ihr Vater und warf seiner Frau einen liebevollen Blick zu. »Ruths Kenntnisse, wo sich der beste Schuhladen und das eleganteste Bekleidungsgeschäft befinden, sind zwar in der Tat sehr umfangreich. Wenn es jedoch darum geht, das Baujahr und den Architekten eines Gebäudes zu benennen, muss meine geliebte Gattin meistens passen, nicht wahr?«
    Ruth zuckte gleichgültig mit den Achseln. Wen interessierte so etwas?
    »Also, ich glaube ja, dass die Autoren nur voneinander abschreiben. Von denen haben die meisten noch gar keinen Fuß in die Stadt gesetzt!«, sagte Wanda laut. Gleichzeitig ärgerte sie sich darüber, dass sie nicht daran gedacht hatte, der Tante solch einen Stadtführer zu schenken. Dann hätten sie vielleicht einen der darin erwähnten Ausflüge zusammen machen können.
    Marie warf ihr einen fragenden Blick zu. »Meinst du? Ich finde das Buch sehr informativ. Vor allem den Abschnitt über die New Yorker Brücken – den habe ich natürlich als Erstes verschlungen! Wartet, ich zeige euch etwas.«
    Die anderen am Tisch lachten – Maries Faszination bezüglich der New Yorker Brücken war inzwischen bekannt.
    »Schaut, der Bau der

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