Die Amerikanerin
Brooklyn Bridge!« Marie zeigte auf eine Fotografie, auf der ein Dutzend grinsender Arbeiter zwischen Drahtseilen herumturnten.
»Da steht, dass man 14000 Meilen Eisenkabel gebraucht hat! Und am Ende ist alles dreimal so teuer geworden wie geplant.«
»Steht auch in dem Buch, wie viele Arbeiter beim Bau der Brücke ums Leben gekommen sind?« Betont interessiert beugte sich Wanda über die Seite. »Und dass Tausende von armen Immigranten jahrzehntelang für gerade einmal zwei Dollar Tageslohn dafür haben schuften müssen?«
»Wanda!«, kam es mahnend von Ruth.
»Was heißt hier Wanda? Bist nicht du diejenige, die immer sagt, jedes Ding hätte zwei Seiten? Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. Wo Reichtum ist, da ist auch Armut. Das gilt für New York doch im besonderen Maße. Ihr zeigt Tante Marie nur den Teil der Stadt, den sie eurer Meinung nach sehen soll. Wie kann sie sich da ein eigenes Bild machen?«
»Oje, jetzt kommst du wieder mit deinen sozialen Ansichten! Ich glaube kaum, dass Marie den weiten Weg hierher gemacht hat, um sich Armenviertel anzuschauen«, erwiderte Ruth kühl.
»Darum geht es nicht nur!«, rief Wanda aus. »Als Künstlerin will Tante Marie doch sicher mehr sehen als nur den Broadway mit seiner Huldigung an den Kommerz. Oder die Veranstaltungen im Madison Garden. Die wahre Kunst findet doch heutzutage längst woanders statt. Pandora sagt …«
»Bitte erspare uns die Ansichten deiner verrückten Tanzlehrerin zu diesem Thema«, unterbrach Steven sie knapp. Dann wandte er sich wieder Marie zu.
»In einem hat Wanda recht«, er bedachte seine Tochter mit einem kurzen, ungnädigen Blick, »New York ist einGesamtkunstwerk. In einer Zeit, wo es keine neuen Welten mehr zu entdecken gibt, wird hier von Menschenhand eine Weltmetropole geschaffen. Es ist eine Gnade für jeden von uns, daran teilhaben zu dürfen.«
»So poetisch kenne ich dich gar nicht!« Marie gab Steven einen kleinen Knuff. »Erzähl weiter, es macht Spaß, dir zuzuhören.«
Warum konnte sich ihre Tante zur Abwechslung nicht einmal mit ihr unterhalten? Eingeschnappt widmete sich Wanda wieder ihrem Essen. Die Kartoffelpampe schmeckte eigentlich ganz gut.
Steven zeigte zum Fenster. »Dort draußen, in diesen Straßenschluchten, die teilweise so schmal sind, dass man die Sterne und den Mond nicht mehr sehen kann, gibt es täglich Tausende von Chancen. Ob man gewinnt oder verliert – das hat jeder selbst in der Hand. Für mich ist das die wahre Schönheit dieser Stadt.«
»Chancen!«, giftete Wanda, bevor Marie wieder diesen seligen Gesichtsausdruck bekommen konnte. »Du solltest nicht alles glauben, was Vater sagt. Wenn du nämlich jung und eine Frau bist, dann hast du so gut wie keine Chancen. Dann wird dir ständig nur gesagt, was du nicht darfst.«
Verwirrt schaute Marie sie an. »Wie meinst du das?«
»Wahrscheinlich spielt sie wieder auf ihre Arbeitssuche an. Musst du unseren Gast damit langweilen?«, wies Steven Wanda ungewohnt scharf zurecht.
Und Ruth fügte an: »Wie oft soll dir dein Vater noch Arbeit bei Miles Enterprises anbieten? Deine Aufsässigkeit wird allmählich wirklich albern.«
»Und wie oft soll ich euch noch sagen, dass ich nicht im elterlichen Unternehmen unterschlüpfen werde?«, äffte Wanda den Ton ihrer Mutter nach. Dann fügte sie mit normaler Stimme hinzu: »Vater ist in meinem Alter schließlich auch zu Woolworth gegangen und nicht zu seinem Vater!«
»Harold ist auch nicht begeistert von deinen Flausen«, tat Ruth kund, als hätte Wanda gar nichts gesagt. »Er hat sich schon darüber beklagt, dass er dich viel zu wenig zu sehen bekommt.«
»Blast nur alle in ein Rohr, Harold und ihr!«
Und so ging es hin und her. Mal wurde der Ton schärfer, mal kühlte er noch mehr ab. Nach einem besonders heftigen Wortwechsel schluchzte Ruth plötzlich auf.
»Ruth, Liebes, nicht weinen!« Mit großer Zärtlichkeit strich Steven seiner Frau die Tränen von den Wangen.
Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen.
»Was haben wir nur falsch gemacht? Sie hat doch alles bekommen, oder etwa nicht?«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.
Wanda schluckte. Die beiden sprachen wieder einmal über sie, als wäre sie nicht da! Sogar Tante Marie ignorierten sie.
»Junge Menschen sind in dem Alter so. Zumindest heutzutage. Ich bin mir sicher, dass Wanda sich in angemessener Art für ihr Verhalten entschuldigen wird und …« Steven sprach in beruhigendem Ton auf Ruth ein.
Ruckartig schob Marie ihren Stuhl
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