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Die Amerikanerin

Die Amerikanerin

Titel: Die Amerikanerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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verkündet, bevor sie und Ivo in einem Wirbel aus wilden Tönen und unglaublichen Verrenkungen aufgingen. Noch nie hatte Marie einen Menschen solche Bewegungen ausführen sehen! Sie waren fremd und jede Sitte verletzend. Regungslos hatte sie beobachtet, wie Pandora sich schließlich vor ihnen auf den Boden warf, als wäre sie von einem tödlichen Pfeil getroffen worden.
    In einem Zug trank Wanda jetzt ihr Wasser aus.
    »Ich rate dir, deinen Atem in den Griff zu bekommen«, sagte sie zu Marie und hielt ihren leeren Becher wie eine Trophäe in die Höhe. »Die Bewegungen gerade eben waren nur zum Aufwärmen. Im Anschluss an die Pause wird Pandora uns die heutige Aufgabe stellen.«
    Marie seufzte. »Allmählich glaube ich, dein Vater hatte gar nicht so unrecht, als er deine Tanzlehrerin als verrückt bezeichnete!«

    »Stellt euch vor, es wäre tiefster Winter«, forderte Pandora, nachdem sie sich wieder in einem Kreis formiert hatten. »Euch ist schrecklich kalt, vielleicht habt ihr auch Hunger und keinen Platz zum Aufwärmen. Wie fühlt ihr euch dabei? Diesen Ausdruck will ich in eurem Tanz sehen. Also schließt die Augen und friert!«
    Die Mädchen stöhnten.
    »Warum ausgerechnet Winter?«, fragte eine junge Frau.
    Pandora schaute missbilligend in ihre Richtung. »Dass wir schwitzen, brauchen wir uns ja wohl nicht erst vorzustellen, oder?«
    Theatralisch wischte sie sich den Schweiß aus der Stirn.
    Marie lachte wie alle anderen auch, doch wohl war ihr dabei nicht. Wie peinlich das Ganze war!
    Doch als Ivo eine schwermütige Weise anschlug, war der Winter plötzlich gar nicht mehr so weit entfernt. Ivos Töne erzählten von Russland, von kaltem Wind und leergefegter Steppe.
    Ein erstes Schauern rann durch Maries Körper, doch zu einer Bewegung war sie nicht fähig.
    »Mach die Augen zu«, ermahnte Pandora sie flüsternd im Vorbeigehen.
    Mit geschlossenen Augen begann Marie plötzlich zu sehen. Eiskristalle, pulvrig aufgeplustert wie durch ein Mikroskop. Eine Fensterscheibe, der Holzrahmen verwittert, Finger, die kalte Linien malten. Maries rechte Hand ging unvermittelt in die Höhe, gefolgt von ihrer linken. Sanft beugte sich ihr Körper dabei nach vorn.
    Eiskristalle!
    Einer schöner als der andere. Kleine Welten, die bei der ersten Berührung zerflossen.
    Wie in Trance begann Marie sich hin und her zu wiegen.
    Einen nur festhalten können, einen nur!
    Ihre Finger umklammerten die Luft, suchend, fordernd.
    Schneller, sie musste schneller sein als das Eis, sie musste sich drehen, drehen …
    Plötzlich war die Musik vorüber, und Pandora klatschte in die Hände.
    »Sehr gut, meine Trampeltierchen! Tief durchatmen und die Arme schwenken«, befahl sie.
    Benommen schlug Marie die Augen auf.
    Pandora fragte eines der Mädchen, wie es ihr ergangen sei.
    »Ich habe mir vorgestellt, ich laufe mit meiner Mutter im Januar durch die Stadt und habe meinen Mantel vergessen. Brrr, war das kalt!«
    Die anderen lachten.
    Pandora nickte der Nächsten zu.
    »Ich dachte an die Eisbären im Zoo. Und daran, dass sie immer kaltes Wasser um sich haben müssen.«
    »Und was hat sich unsere Besucherin vorgestellt?« Abrupt drehte sich die Lehrerin zu Marie um.
    »Ich …« Verwirrt machte sie einen Schritt nach hinten.
    »Keine Angst, das machen wir immer so«, raunte Wanda. Marie zögerte dennoch kurz. Warum eigentlich nicht?
    »Ich habe mich an etwas erinnert, woran ich schon lange nicht mehr gedacht hatte. Und ich habe mich dabei wunderbar gefühlt!« Immer noch fassungslos schüttelte sie den Kopf.
    »Ich war ein junges Mädchen, gerade einmal so alt wie Wanda oder einige der anderen.« Marie blinzelte in die Runde. »Es war kurz vor Weihnachten, und ich habe mir den Kopf zerbrochen, womit ich meinen Schwestern zum Fest eine besondere Freude machen könnte. Doch mir wollte nichts einfallen – wir waren arm und hatten kein Geld für Geschenke«, fügte sie hinzu. »Eines Nachts stand ich an unserem zugefrorenen Fenster und schaute hinaus, als mein Blick auf die Eiskristalle fiel, die sich an der Scheibe gebildet hatten. So glänzend, so schön, so eiskalt!«
    Sie lächelte versonnen.
    »In jener Nacht habe ich mich zum ersten Mal an den Bolg gesetzt. Das ist der Arbeitsplatz der Glasbläser in meiner Heimat«, fuhr sie fort. »In jener Nacht habe ich meine erste gläserne Christbaumkugel geblasen und diese später mit Eiskristallen bemalt. Den Winter wollte ich einfangen, unbedingt!«
    »Tante Marie ist eine sehr berühmte

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