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Die Amerikanerin

Die Amerikanerin

Titel: Die Amerikanerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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das Gezanke weiter, es gab kaum ein Kleidungsstück, das Mutter und Tochter unisono gutgeheißen hätten. Marie hielt sich aus solchen Disputen heraus – nicht, dass ihr modisches Urteil gefragt gewesen wäre! Als sie vorschlug, in die Herrenabteilung zu gehen, um dort nach neuen Hosen zu schauen – sie konnte schließlich Vaters uralte Beinkleider nicht mehr ewig tragen –, fing sie von beiden einen entsetzten Blick ein.
    So reserviert Wanda ihr gegenüber war und so patzig ihrer Mutter gegenüber, so liebenswert konnte sie bei Fremden sein: Die Verkäuferinnen rissen sich förmlich darum, die junge Frau zu bedienen, und brachten Dutzende von Kleidern, Schuhschachteln und anderen Dingen zu deren Begutachtung herbei. Marie kam es vor, als wollte Wanda Ruth und ihr damit zeigen: Schaut, so freundlich könnte ich zu euch auch sein, wenn ich nur wollte, und sie hatte das Gefühl, dass hinter Wandas Widerspenstigkeit mehr steckte als lediglich die jugendliche Lust zu Aufruhr und Protest. Doch Ruth nahm sie mit ihren Unternehmungen dermaßen in Beschlag, dass sich bisher keine Gelegenheit geboten hatte, einmal etwas mit Wanda allein zu unternehmen und dabei herauszufinden, warum diese glaubte, ständig ihre Abwehrstacheln aufrichten zu müssen.
    Wenn sie nicht gerade einkaufen gingen – was Marie sehranstrengend fand –, zeigte Ruth ihr die Stadt. In New York ging beides Hand in Hand, das lernte Marie schnell: Da war die Fifth Avenue mit Hunderten von Geschäften, der Times Square, wo sich ein Theaterhaus ans andere drängte, allesamt beleuchtet von glitzernden Reklameschildern, etwas weiter südlich lag das größte Kaufhaus der Welt, Macy’s genannt, und wieder ein paar Ecken weiter das Metropolitan Museum. Um sich dieses anzuschauen, würde noch Zeit genug bleiben, vertröstete Ruth sie jedes Mal, wenn sie an dem eindrucksvollen Portal vorbeikamen.
    Während es ihre Schwester auf schnellstem Wege in die Geschäfte zog, hätte Marie den ganzen Tag draußen vor den Wolkenkratzern stehen können, in denen die Läden untergebracht waren.
    »Weißt du«, gestand sie Ruth einmal, »eigentlich fand ich deine Schwärmerei über Hochhäuser in deinen ersten Briefen immer ziemlich seltsam. Was ist schon so Besonderes an einem Haus, auch wenn es groß ist, habe ich mich gefragt. Aber jetzt kann ich dich verstehen! Diese Riesen sind wirklich unglaublich.« Sie machte eine Handbewegung, die den ganzen Straßenzug mit einschloss. »Seit dem Bau der gotischen Kathedralen vor mehr als achthundert Jahren hat es keine so großen Gebäude gegeben, das muss man sich einmal vorstellen!«
    Mit glänzenden Augen starrten sie in die Höhe, während Ruth Marie erklärte, dass sich hinter jeder schillernden Fassade eine ganze Stadt mit Postamt, Anwälten, Geschäften, Schuhmachern und allem anderen befand, was man zum Leben brauchte.
    Natürlich gingen sie auch in eines der Kaufhäuser von Woolworth – schließlich war er der Erste gewesen, der Maries Christbaumkugeln nach Amerika gebracht hatte. Marie wollte sich unbedingt an eine der berühmten Theken setzen und bei einem Eisbecher dem Treiben der Käufer zuschauen,doch Ruth rümpfte die Nase – ihr war die Umgebung zu unfein. Erst als Marie sie daran erinnerte, dass sie durch Woolworth ihren Steven kennengelernt hatte und daher nichts, was mit dem Mann zusammenhing, unfein sein konnte, willigte Ruth lachend ein.
    »Wer weiß – vielleicht finden wir sogar einen zweiten Steven für dich?«, sagte sie augenzwinkernd, doch Marie winkte nur ab.
    Ruth erklärte ihr, dass zur Weihnachtszeit in der ganzen unteren Etage Tische mit Christbaumschmuck aus Lauscha stünden. Kugeln, Engel, Weihnachtsmänner, dekoriert auf rotem Samt, warteten darauf, von potenziellen Käufern in die Hand und mit nach Hause genommen zu werden.
    »Stell dir vor: Letztes Jahr soll es zu regelrechten Rangeleien an den Tischen gekommen sein, weil jeder deine silbernen Engel haben wollte! Sogar die Zeitungen haben darüber berichtet. Mit Foto!«, erinnerte sich Ruth lachend. »Es waren einfach nicht genug Engel da. Dabei hat Johanna Mister Woolworth ausdrücklich zu einer größeren Order geraten. Tja, manchmal verrechnet sich eben auch ein Genie wie er.« Trotz Ruths ausführlichen Schilderungen fiel es Marie schwer, sich ihre Christbaumkugeln hier vorzustellen: Für sie hatte das, was sie tagtäglich zu Hause an ihrem Bolg tat, nichts mit dem ganzen Trubel um sie herum zu tun.

    Manchmal trafen sie sich

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