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Die Amerikanerin

Die Amerikanerin

Titel: Die Amerikanerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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Wanda.
    Erstaunt hob Marie die Augenbrauen. Was hatte das junge Mädchen jetzt wieder vor?
    »Ja und?« Pandora steckte ein Bündel Geldscheine in das Kistchen vor ihr auf dem Tisch, dann begann sie, Münzen zu zählen.
    »Und du hast einmal erzählt, dass deine Vorfahren auch aus Deutschland kommen und du ganz gut Deutsch sprichst«, fuhr Wanda fort. »Da habe ich mir gedacht, wir könnten doch einmal etwas zu dritt unternehmen! Vielleicht eine Tasse Kaffee trinken oder ein Eis essen … Dann könntet ihr euch auch mal über Deutschland unterhalten …«
    Marie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Wie peinlich!
    »Wanda! Ich halte es für keine gute Idee, dass du …«
    »Aber warum denn nicht? Das können wir gern machen«, unterbrach Pandora sie freundlich. Sie fuhrwerkte abermals mit einem kleinen Schlüssel im Schloss ihrer Geldschatulle herum und holte einen Schein heraus.
    »Ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen und einenRiesenhunger! Wenn ihr Lust habt, könnt ihr ja mitkommen. Aber ich warne euch – ich weiß noch nicht, wohin mein Appetit mich verschlagen wird!«
    Mit großer Geste warf sie sich eine tiefrote Stola über die Schultern und marschierte los, ohne sich noch einmal nach Marie und Wanda umzudrehen.
    Den beiden blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
    »Musste das sein? Ich komme mir vor wie ein Hündchen, das ausgeführt wird«, zischte Marie ihrer Nichte zu. Doch Wanda grinste nur.
    Was folgte, war ein Rundgang – ein kulinarischer noch dazu – durch ein Marie bislang völlig unbekanntes New York: Zuerst führte Pandora sie in die East Side. Hier, wo mehr als 400 000 Juden lebten, wohnte auch ihre Familie, doch Pandora hatte nicht vor, sie zu besuchen. Stattdessen betrat sie ein kleines Restaurant, in dem gerade einmal drei Tische Platz hatten, und bestellte Gefilte Fish , grobkörniges Roggenbrot und Schmear , einen nach Senf schmeckenden Brotaufstrich.
    Ausgehungert fiel Marie über das fremde, aber wohlschmeckende Essen her – bei Ruth hatte es wieder einmal nur Salat gegeben. Dass sie die einzigen Frauen in dem kleinen Raum waren und dass die Männer um sie herum ihre Schläfenhaare zu zwei Zöpfchen geflochten unter einer kleinen Haube trugen, störte sie nicht weiter. Die Lower East Side sei der am engsten bevölkerte Ort der Welt, offenbarte Pandora zwischen zwei Bissen. »Zumindest will das einer dieser schlauen Statistiker errechnet haben.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nur, dass es hinter den hohen Fassaden hier fürchterlich eng zugeht. Über zwanzig Menschen leben oft in einem Raum – kannst du dir das vorstellen? Ich bin jedenfalls froh, nicht mehr hier wohnen zu müssen.« »Bei uns in Lauscha sieht’s eigentlich nicht wesentlich anders aus. Viele Familien schlafen, essen und arbeiten ineinem einzigen Raum.« Marie kicherte. »Diejenigen, die wie wir Christbaumkugeln herstellen, trifft man nie ohne Glitzerpuder im Gesicht und auf der Kleidung an, der feine Glasstaub setzt sich einfach überallhin.«
    Pandora nickte wissend. »Das kenne ich auch, bei den Schneidern hier ist’s nicht anders. Nur landen da die Stofffusseln in der Suppe und die Stecknadeln manchmal auch im Bett. Es heißt, dass in ganz New York über eine Million Juden leben, und die meisten kommen wie meine Familie aus Europa«, erklärte sie weiter.
    Als der Kellner ihnen Nachschub anbot, hätte Marie zu einer weiteren Portion des Fisches nicht Nein gesagt. Doch Pandora winkte ab. »Das war nur die Vorspeise«, sagte sie geheimnisvoll und zahlte. Mit einem Ruck stand sie anschließend auf und war im nächsten Moment draußen auf der Straße.
    Marie und Wanda schauten sich an und lachten. Dann rannten sie hinter Pandora her.
    Einfach nur Spaß haben … Plötzlich hatte Marie wieder den Vorsatz ihrer Reisebekanntschaft Gorgi im Ohr. Eigentlich war es doch ganz einfach!
    Sie aßen klebrigen Reis aus kleinen Schüsseln in Chinatown, scharfen Gulasch in einem ungarischen Restaurant und Spaghetti mit Muscheln in Little Italy. Die Vorstellung, dass sie wahrscheinlich die halbe Nacht damit verbringen würden, das unheilvolle Gemisch wieder von sich zu geben, erheiterte sie so, dass ihnen vor lauter Lachen Tränen über die Wangen liefen.
    Wohin sie auch gingen – Pandora war überall bekannt. Und sie zog die Aufmerksamkeit der Leute auf sich wie ein Rad schlagender Pfau. In jedem Restaurant wurde sie mit Handschlag begrüßt, bekam ein Extra-Gläschen Wein oder einen

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