Die Amerikanerin
geglänzt. Ihr einstmals etwas fahles Braun leuchtete nun warm wie Kaffee mit einem Löffelchen Sahne. Und dann war da noch dieses duftende Haarpuder, das sie wie ein Hauch Frühlingsluft den ganzen Tag begleitete …
Die Nachmittage verbrachte Ruth in der Regel damit, Menüfolgen und Tischdekorationen für Einladungen zu planen. Meist handelte es sich bei ihren Gästen um wichtige Kunden von Miles Enterprises, Stevens Großhandelsunternehmen, manchmal auch um zuverlässige Lieferanten, die zu einem Besuch in der Stadt weilten. Steven war der Überzeugung, dass man Geschäftskontakte nirgendwo besser pflegen konnte als bei einem eleganten Dinner. Bei Ruth, einer geborenen Gastgeberin, lief er damit offene Türen ein. Ob es ein Essen in kleiner Runde oder ein Bankett für zwanzig Einkäufer war – sie ging jedes Mal völlig in ihrer Aufgabe auf.
Und so hatte Marie an den Nachmittagen Zeit für eigene Unternehmungen. Ruth wäre sicher entsetzt gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass ihre Schwester dabei manchmal einfach nur durch die Straßen schlenderte und nichts anderes tat, als das besondere Parfüm der Stadt zu inhalieren. Oder dass sie Stunden auf einer Bank im Central Park damit verbringen konnte, Spaziergänger zu beobachten, die Sonne zu genießen, die die asphaltierten Wege mattschwarz glänzen ließ, und dem Vogelgezwitscher zu lauschen, das aus den riesigen, Schatten spendenden Kronen der Kastanienbäume herabschallte.
Zum ersten Mal in Maries Leben waren ihre Tage nicht bestimmt von dem strengen Arbeitsrhythmus der Glasbläserei: vormittags die Arbeit vor der Flamme, nach dem Mittagessen neue Kugeln entwerfen oder Zeichnungen für das Musterbuch anfertigen. Nun, da ihre Konzentration nicht einzig auf das Glasteil, das gerade in ihren Händen entstand, gerichtet war, tanzten ihre Gedanken auf und ab wiekleine Papierschiffe auf einem Weiher. Das Gefühl war ihr fremd, und sie wusste noch nicht, ob es ihr wirklich gefiel. Aber sie ließ es zu. So wie sie auch alles andere an neuen Erfahrungen zuließ, ja geradezu mit offenen Armen begrüßte. Bei so viel neuen Eindrücken, das war Maries krampfhafte Hoffnung, würde ihre Fantasie gewiss wieder zu ihr zurückkommen.
Doch bisher … nichts.
Manchmal musste sie an den schrecklichen Alptraum denken, der im weitesten Sinne der Auslöser für ihre Amerikareise gewesen war: sie unter einer Glaskugel, wie in einem gläsernen Gefängnis. Habe ich es womöglich mit hierher gebracht?, fragte sie sich.
War wieder einmal ein Tag vorübergegangen, ohne dass sie ihren Zeichenblock ausgepackt hatte, war sie froh, wenn Wanda für den nächsten Nachmittag einen gemeinsamen Ausflug vorschlug. Oder wenn sie zu Pandoras Tanzunterricht gingen. An diesen Tagen konnte sie das Gefühl, in sich selbst gefangen zu sein, eine Zeitlang vergessen.
Wanda, Pandora und sie hatten beschlossen, fortan nach jeder Tanzstunde auf eine Tasse Kaffee auszugehen.
Eines ihrer bevorzugten Cafés war das im Central Park, wo Pandora einen Kellner kannte, der ihnen, wann immer sein Chef nicht hinschaute, eine Extraportion Eis in den Becher tat oder kostenlos Kaffee nachschenkte. Außerdem verfügte dieses Café über eine Terrasse mit Sonnenschirmen und hübschen Eisenmöbeln, von denen aus man den halben Park überblicken konnte. Was konnte es Schöneres geben, als an einem Sommertag unter freiem Himmel eine Erfrischung zu genießen?
Sie saßen wieder einmal unter einem der gestreiften Sonnenschirme, als Wanda stolz verkündete: »Ab nächster Woche müsst ihr leider tagsüber auf meine Gesellschaft verzichten. Ich habe nämlich Arbeit gefunden!«
Sie nahm die Glückwünsche der beiden anderen entgegen, strahlte und erzählte dann, worum es sich bei ihrem neuen Posten handelte.
»Aufseherin in einer Mantelfabrik?!« Stirnrunzelnd ließ Pandora ihren Eislöffel sinken. »Aber Trampeltierchen – das kann doch nicht dein Ernst sein!«
»Und ob!« Wanda lachte. »Ich weiß, es ist nicht gerade die aufregendste Arbeit, aber ich muss schließlich froh sein, überhaupt etwas bekommen zu haben. Und heißt es nicht, man soll aus allem das Beste machen?« Unbekümmert schob sie ihre Haare, die wie ein silberner Helm ihr Gesicht einrahmten, zurecht.
Sie hatte schon damit gerechnet, dass Pandora die Nase rümpfen würde. »Warum fängst du nicht bei mir an zu arbeiten? Als meine Assistentin sozusagen«, hatte sie Wanda vor nicht allzu langer Zeit angeboten. Beide hatten jedoch gewusst, dass außer
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