Die Amerikanerin
Tanzstunde wieder losziehen.«
Wanda hockte mit glücklichem Gesicht dabei.
Eine Zeitlang schauten sie dem Treiben im Hafen zu. In kurzer Abfolge schipperten zwei Fischkutter, eine Fähre und etliche Transporter an ihnen vorbei. Weiter hinten im Hafenbecken näherte sich ein silbern glänzender Ozeanriese.
»Wie kann eine Stadt nur so viele verschiedene Gesichter haben«, wunderte sich Marie erneut. »In meinem Reiseführer steht, dass man New York einen ›Schmelztiegel‹ nennt, das ist doch sehr treffend, oder? Was ist – warum lachst du?«, fragte sie Pandora.
»Weil ich es lustig finde, dass nun schon die Reiseführer diesen Begriff übernommen haben. Den hat nämlich ein Freund von mir – Israel Zangwill – geprägt«, erklärte sie stolz. »Vor zwei Jahren hat er ein Theaterstück auf die Bühne gebracht, in dem es um einen russischen Musiker geht, der sich nichts sehnlicher wünscht, als eine Sinfonie zu schreiben, die New York in allen seinen Facetten einfängt. Israel lässt seinen jungen Russen auf einem Hochhausdach stehen und auf die Stadt hinunterschauen.«
Pandora stand auf, stieg auf die Bank und nahm eine dramatische Pose ein.
»Da unten liegt der große Schmelztiegel! Hört ihr sein Röhren und Blubbern? Seht ihr sein riesiges Maul, den Hafen, aus dem die menschliche Fracht zu Abertausenden hinausgespült wird auf die Straßen?«
Sie stieg wieder von der Bank, ohne sich um die verwunderten Blicke der Passanten zu kümmern.
»Genau das hat Israel seinen jungen Russen sagen lassen.« Sie zog ein Gesicht. »Sein Pech war, dass die New York Times sein Stück als romantischen Firlefanz verrissen hat. Und meins war es auch: Ich war nämlich seinerzeit als Bühnenarbeiterin bei ihm beschäftigt – ein kurzzeitiger akuter Geldmangel hatte mich dazu getrieben.« Sie seufzte. »Wenn ich so darüber nachdenke … eigentlich bin ich schon ziemlich viel herumgekommen. Das war, bevor ich endlich das Geld für meine Tanzschule zusammenhatte«, fügte sie erklärend hinzu.
»Und ich habe mich schon gewundert, wie du dir ganze Textpassagen aus einem Theaterstück merken kannst!«, sagte Marie. »Trotzdem – langsam wirst du mir unheimlich.«
Die drei standen von der Bank auf, und lachend hakte sich Pandora bei Wanda und Marie ein.
»Falls es dir ein Trost ist: Ich habe auch meine Schwächen. Eine davon ist die, dass ich mit Geld nicht sonderlich gut umgehen kann, was bedeutet, dass ich noch nicht einmal die Miete für diesen Monat zusammenhabe und ganz schön sparen muss. Deshalb schlage ich vor, dass wir auf dem Nachhauseweg noch ein schönes Glas Weißwein auf eure Kosten trinken!«
8
Es war Anfang Juli. Marie konnte nicht glauben, dass seit ihrer Ankunft in New York erst drei Wochen vergangen waren. Sie ging so in ihrer »New Yorker Routine« auf, wie sie ihren Tagesablauf nannte, als hätte sie niemals woanders gelebt.
Nach einem späten Frühstück, das Ruth und sie gemeinsam einnahmen, gingen sie meist erst einmal zum Shopping. Nicht immer waren es große Einkäufe wie ein Kleid oder ein Hut. Ruth konnte auch Stunden damit verbringen, aus zehn verschiedenen Hutbändern das schönste auszuwählen. Oder sich Dutzende von Seidenblumen anzustecken, um sich am Ende lediglich eine blassgraue Tüllrose einpacken zu lassen. Wie man so viel Zeit mit Dingen vertrödeln konnte, die man im Grunde gar nicht brauchte, wollte Marie nicht einleuchten. Doch Ruth hatte schon als junges Mädchen Ewigkeiten vor der großen Spiegelscherbe im Waschschuppen verbringen können, erinnerte sie sich. Zwei Blusenkragen zum Wechseln, ein paar selbst gemachte Glasperlenketten und eine Handvoll Haarbänder – aus mehr hatte Ruths Zierrat damals nicht bestanden. Aber wie viel Hingabe hatte sie schon damals auf ihr Aussehen verwendet! Und wie oft hatte sie damit Johanna und Marie fast zur Weißglut gebracht!
Einmal pro Woche hatte Ruth vormittags einen Termin beim Friseur. Sie bestand darauf, dass Marie sie begleitete und sich ihre Haare ebenfalls frisieren ließ. Obwohl sie anfänglich dagegen protestierte – zu Hause in Lauscha wäre sie nie auf den Gedanken gekommen, zum Friseur zu gehen, ganz abgesehen davon, dass es in Lauscha selbst gar keinen gab und man dafür nach Sonneberg laufen musste –, trotz ihres anfänglichen Protestes also musste Marie zugeben, dass die wohlriechenden Mittelchen, mit denen die Haare dort gewaschen und gepflegt wurden, Wirkung zeigten:Noch nie hatten ihre Haare so schön
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