Die Amerikanerin
war vielleicht eine Nacht!«, schrie Pandora Marie ins Ohr. Ihre Wangen waren gerötet. »Die sieben Sommer stehen für Sherlains Zeit als Mutter. Die Hölle über ihr für die Übermacht der katholischen Kirche. Und der Hafen beziehungsweise der Himmel – ein Wortspiel, hast du es erkannt? – für die sinnliche Lust einer Göttin, deren Muschel …«
Marie winkte genervt ab. Nun erging es ihr wie Pandora nachmittags im Museum: Sie wollte keine Erklärungen. Sie wollte nur … fühlen. Ihr war es inzwischen auch gleichgültig, dass die Lesung in einer Müllhalde stattfand – der Kontrast zwischen der hässlichen Umgebung und der Schönheit von Sherlains Worten war sogar ein besonderer Stimulus, erkannte sie.
Marie wollte mehr.
Mehr von diesem fremden Elixier, das sie für kurze Zeit die eigene Unzulänglichkeit vergessen ließ.
Es war ein reiner Zufall, der Franco an diesem Nachmittag in die Nähe der Lagerhallen brachte. Mochte er im Nachhinein auch die Götter nennen, von höherer Gewalt und Bestimmung reden – es war doch nicht mehr als eine zufällige Fügung.
Von der Lesung hatte er nichts gewusst. Keiner von seinen Leuten wusste etwas davon, denn niemand hatte den Lagervorsteher um Erlaubnis gefragt, niemand die Halle offiziell gemietet. Sie gehörte zum Eigentum der Familie de Lucca wie ein halbes Dutzend andere Hallen im Frachthafen von New York. Im Gegensatz zu anderen wurde sie jedoch nichtgenutzt. Weder für die Lagerung des importierten Weines, bevor er in die vielen italienischen Restaurants der Stadt floss, noch für jene anderen dunklen Zwecke. Sie stand seit langer Zeit schon leer. Zumindest hatte Franco das angenommen.
Er war gerade dabei, mit dem Besitzer eines angrenzenden Lagerraumes über dessen Kaufpreis zu verhandeln, als aus der besagten Halle eigentümlicher Lärm zu ihnen drang.
Wahrscheinlich Obdachlose, die betrunken Radau machen, urteilte Francos Wachmann grimmig und rannte los, um Verstärkung zu holen.
Franco, der andere Hallenbesitzer und drei Wachmänner wollten gerade mit Knüppeln bewaffnet durch das hintere Hallentor stürmen, als von drinnen eine raue Frauenstimme zu ihnen drang.
»I give you my blood
sweet lamb of mine
to still your thirst
to strengthen your spine …«
Perplex wies Franco seine Männer mit einer Handbewegung an, stehen zu bleiben. Gedichte? Hier?
Allein betrat er das düstere Innere, der bittersüßen Poesie folgend.
»No killing will follow
I promise you so
my love will be stronger
my love will come through …«
Je näher er kam, desto stärker zogen ihn die Verse in ihren Bann. Er verstand nicht jedes Wort, aber dass es um Liebe ging, wusste er. Um die tiefste, die innigste Liebe, die ein Mensch für einen anderen empfinden konnte, eine Liebe, für die man sein Leben geben wollte.
Liebe, die jede Dunkelheit überdauert … Hastig wischte sich Franco den Schweiß von der Stirn. Ein leichter Schwindel überfiel ihn. Ob es an der Schwüle lag oder an der schlechten Luft, wusste er nicht. Er nahm nicht die seltsamen Personen wahr, die mit einem Weinglas in der Hand in seiner Halle standen, und dachte auch nicht an seine Männer, die immer noch hinten am Tor auf ein Zeichen von ihm warteten. Er hörte nur die rauchsilberne Stimme.
»Please help me, you devilish fawn
to get the night over
to last love till dawn …«
Im nächsten Moment brach der Applaus los.
»Bravo!«
»Grandios!«
»We love thou!«
Franco klatschte mit, bis seine Handflächen brannten.
Die Worte der Dichterin hatten etwas in ihm angerührt, von dem er geglaubt hatte, dass es längst zu Stein erstarrt war. Selbst wenn er gewollt hätte, wäre es ihm unmöglich gewesen, sich gegen das eigentümliche Gefühl in seiner Brust zu wehren.
Und dann sah er sie.
Keine zehn Meter von ihm entfernt stand die Fremde, an die er in der letzten Zeit immer wieder hatte denken müssen. Seit er sie das erste Mal in Giuseppe Brunis Trattoria gesehen hatte, war sie ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ihre Schönheit. Ihre Anmut. Ihr Lächeln. Mehr als einmal hatte er bereut, sie damals nicht sofort angesprochen zu haben.
Und nun musste er sie ausgerechnet hier und jetzt treffen!
Wie beim letzten Mal war wieder die Tänzerin mit der roten Stola an ihrer Seite.
Schlafwandlerisch ging Franco auf die Fremde zu.
Ihre Wangen waren gerötet wie nach einem langen, erholsamen Schlaf. In ihren Augen glänzten Tränen.
Sie sah so verletzlich aus!
Das Toben der Menge, ihre
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