Die Amerikanerin
Blick!«, schrie eine der älteren Frauen.
Und Wanda schlich davon wie ein Hund mit eingezogenem Schwanz.
Eine weitere Hoffnung zu Grabe getragen.
9
Ihr Weg führte sie über Geröll und Schutt, immer wieder musste Marie ihren Rock anheben, damit er nicht an einem besonders großen Steinbrocken hängen blieb. Mit Hosen hätte ich nicht solche Mühe, ging es ihr durch den Kopf, während sie mit gemischten Gefühlen hinter Pandora herstakste, die wie immer vorneweg lief. Obwohl es nicht nach Fisch, sondern eher nach Schmieröl und Qualm roch, sagten ihr vereinzelte Möwen am Himmel, dass sie in der Nähe des Wassers sein mussten. Ansonsten hatte sie völlig die Orientierung verloren. Hier gab es keine Geschäfte oder Restaurants, keine Wohnhäuser und spielenden Kinder auf der Straße, sondern lediglich riesige Lagerhallen, zwischen denen sie nun schon seit einer halben Stunde umherirrten.
»Bist du dir sicher, dass die Lesung in dieser verlassenen Gegend stattfindet?«, fragte Marie schließlich. Allein würde sie von hier nie mehr nach Hause finden, dessen war sie gewiss!
Pandora drehte sich zu ihr um. »Die Lust am Abenteuer schon verloren, meine Liebe?«
Unverdrossen marschierte sie weiter.
»In einem Dichtercafé kann schließlich jeder ein Buch in die Hand nehmen. Aber tröste dich, gleich haben wir es geschafft.«
Marie zog die Augenbrauen hoch. Auf einmal wünschte sie sich, Wanda wäre mitgekommen. Aber ihre Nichte hatte Arbeiterinnen zu beaufsichtigen. Bei dem Gedanken huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Wahrscheinlich fühlte sich Wanda mindestens so unwohl wie sie, nur würde sie es niemals zugeben!
In der Lagerhalle war es noch heißer als draußen in der grellen Julisonne. Die Luft unter dem Blechdach warabgestanden und schwül. Sofort begannen Maries Haare im Nacken zu kleben.
Sie schaute sich um, während Pandora loszog, um etwas zu trinken zu holen.
Der Ort, an dem die Lesung stattfinden sollte, war eine einzige große Rumpelkammer: Auf der einen Seite türmten sich Berge von alten Stühlen und Tischen auf, die davon erzählten, dass der Raum in früheren Zeiten schon einmal als Versammlungsort gedient haben musste. Auf der anderen Seite stapelten sich zusammengefaltete Kartons, Blechkanister und verrostete Eisengestänge, auf deren ursprüngliche Bedeutung sich Marie keinen Reim machen konnte. Der Boden war verschmutzt mit dem Kot von Tauben, die jedes Mal aufgeregt unter dem Blechdach aufflatterten, wenn die Tür aufging. Das geschah relativ häufig – Marie schätzte, dass ungefähr fünfzig Personen anwesend waren.
»Wo bin ich hier nur hingeraten?«, murmelte sie, als sie Pandora wieder auf sich zukommen sah. Erstaunt deutete sie auf die beiden Gläser in Pandoras Hand. »Wo hast du denn die her? Kannst du zaubern?«
Die Tänzerin winkte ab. »Lass uns nicht über diese Bruchbude hier reden. Dass sie zu Sherlains Gesamtkunstwerk gehört, wirst du später schon noch merken. Und du siehst ja: Ganz unzivilisiert geht es hier auch nicht zu!«
Während Marie an dem kühlen Weißwein nippte, erzählte Pandora ihr von der Dichterin. Hatte Marie bis dahin geglaubt, die Tänzerin sei eine exzentrische Persönlichkeit, wurde sie bald eines Besseren belehrt. Gegen Sherlain war Pandora ein Lämmchen!
Sherlain hatte im Alter von vierundzwanzig Jahren nicht nur ihren Mann und ihren siebenjährigen Sohn verlassen, sondern mit ihrer ganzen irischen Familie gebrochen. Als Ausdruck ihres Widerwillens gegen die von der irischen Kirche auferlegten strengen Lebensnormen mit ihrer»lustfeindlichen, verlogenen Doppelmoral«, wie Sherlain schimpfte, hatte sie außerdem von einem Tag auf den anderen begonnen, englisch zu sprechen. Von diesem Zeitpunkt an war kein irisches Wort mehr über ihre Lippen gekommen. Der Bann durch die Familie hatte nicht auf sich warten lassen: Sherlains Vater hatte jedem, ob Mutter, Cousine oder Onkel, verboten, auch nur einen Satz mit Sherlain zu wechseln. Für ihren Sohn galt dasselbe. Auch über sie zu sprechen war untersagt. Es war, als hätte es sie nie gegeben.
»Ziemlich strenge Sitten, findest du nicht?« Marie runzelte die Stirn. »Wie kommt deine Freundin nun allein zurecht?«
»Es geht so«, antwortete Pandora schulterzuckend und erzählte weiter.
Nach ihrem Ausstieg aus der Gesellschaft hatten Armut und finanzielle Unsicherheit nicht auf sich warten lassen: Sherlain hauste in einem feuchten Kellerloch, das nicht einmal ein Fenster hatte. Es gab Wochen, in
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