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Die Amerikanerin

Die Amerikanerin

Titel: Die Amerikanerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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denen die Dichterin vor lauter Hunger so schwach war, dass sie nicht mehr von ihrer Pritsche aufstehen konnte. Freunde brachten ihr dann Lebensmittel, die sie allerdings nur sehr widerwillig annahm.
    »Aber warum das alles? Sie hätte doch auch mit Mann und Kind Gedichte schreiben können!«, rief Marie entgeistert.
    Pandora schüttelte nur den Kopf.
    Sherlain sah sich als eine keltische Göttin. Ihre Abkehr von der irischen Kirche ging Hand in Hand mit einer Hinwendung zu den alten keltischen Riten ihres Heimatlandes. Heidnischen Riten, wie Pandora hinzufügte.
    »Natürlich ist es eine Art Flucht vor gesellschaftlichen Normen«, konstatierte sie nüchtern. »Aber für Sherlain ist das Wort die Erlösung. Manchmal schreibt sie nächtelang durch, ohne zu schlafen, und am Ende kommt gerade einmal ein Gedicht heraus.«
    Marie hob die Brauen. »Ich will ja nichts gegen deineFreundin sagen … Aber ob ich wirklich von ihr etwas lernen kann, was mir in meiner jetzigen Blockade weiterhilft?«
    »Das musst du selbst entscheiden«, antwortete Pandora gleichmütig.
    Im vorderen Teil des Raumes kam nun Bewegung in die Menge.
    »Es scheint, als ginge es gleich los. Komm, lass uns auch nach vorn gehen!«
    Im Geiste hatte Marie diese Sherlain schon in eine der Schachteln gepackt, in die sonst je sechs Christbaumkugeln kamen, und ein Etikett mit der Aufschrift »Eine Verrückte« daraufgeklebt. Doch da fiel ihr etwas ein: Manches, was Pandora über ihre Freundin gesagt hatte, ähnelte dem, was Alois Sawatzky ihr über die deutsche Dichterin Lasker-Schüler erzählt hatte: Auch die lebte in Armut, hatte mit der Gesellschaft gebrochen und richtete sich nur noch nach »kosmischen« oder ähnlichen Gesetzen. Irgendetwas Besonderes musste also schon an solchen verrückten Frauen sein …
    Ein Paukenschlag riss sie aus ihren Gedanken. Was war das?
    Vier junge Burschen, allesamt in weiße Kutten gekleidet, stellten Dutzende von Kerzen in einem Kreis auf und zündeten sie an. Auf einmal war die Stimmung in der Halle so spannungsgeladen wie kurz vor einem Gewitter. Ein Schauer lief durch Maries Körper.
    In ein wallendes seidenes Kleid gewandet, kam die Dichterin herein. Rostrote Haare, die glühten, als hätte sie jemand entzündet, hingen ihr den Rücken hinab – keine Spange, keine Nadel, nirgendwo. Ein weiterer Paukenschlag folgte, und die vier Jünglinge machten eine tiefe Verbeugung.
    Marie schluckte. Sie hatte sich eigentlich vorgenommen, sich nicht von dieser komischen Dichterin beeindrucken zu lassen, doch kaum hatte sich Sherlain im Kreis der Kerzen niedergelassen, war es um sie geschehen.
    Was für eine Frau! Was für eine seltsame Kraft ging von ihr aus! Plötzlich tauchte das Wort Göttin in Maries Kopf auf.
    Sherlain zündete sich eine Zigarette an. Doch statt den Rauch genussvoll zu inhalieren, spie sie ihn angeekelt wieder aus. Unvermittelt, zwischen zwei Zügen und ohne einen Satz der Begrüßung, ohne ein Wort über den seltsamen Veranstaltungsort zu verlieren, fing die Irin an, einen Text von einem Zettel abzulesen. Leise, ganz leise kamen die ersten Worte, so dass manch einer im Hintergrund sie gar nicht hören konnte. Doch schon nach wenigen Sätzen wurde sie lauter.
    »… seven summers, seven sins
    hell above me, sweet haven below
    my memory lost in glorious mercy
    my shell empowered with lust …«
    Ein weiterer Schauer, prickelnd und beunruhigend, fuhr über Maries Rücken, als sie sich mit geschlossenen Augen der Poesie der fremden Sprache hingab. Welches Glück war in jedem gejauchzten I und E zu hören und welche Traurigkeit in den einsam-düsteren Us und Os! Sherlains Stimme änderte sich ständig, mal war sie weich, dann wieder hart. Sie war wie ein Musiker, der seinem Instrument Töne entlockte, die gar nicht dafür vorgesehen waren.
    Obwohl Marie nicht jedes Wort verstand und sich den Sinn des Gedichts nur zusammenreimen konnte, hatte sie das Gefühl, noch nie so gut … gehört zu haben.
    »… dazzle, moon, dazzle
    for me and for all
    to follow thou!«
    Mit einem Peitschenknall beendete die Dichterin ihre Ode. Die Zigarette verglühte neben ihr auf dem Boden.
    Benommen, als hätte sie sich zu schnell und zu lange im Kreis gedreht, stand Marie da. Den meisten anderen Zuhörern schien es nicht anders zu gehen: verwirrte Blicke nach vorn, Kopfschütteln, Augenreiben, als ob sie erst aufwachen mussten. Dann setzten Applaus und Bravo-Rufe ein.
    »Ich war dabei, als sie das Gedicht verfasst hat – das

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