Die Amerikanerin
verschaffen! Gut, außer ein bisschen Buchhaltung zum Zwecke einer Haushaltsführung hatte sie auf ihrer höheren Mädchenschule natürlich nichts Kaufmännisches gelernt, aber das hieß ja nicht, dass sie nicht lernfähig war, oder? Sie war ja schließlich nicht dumm! Irgendjemand würde ihr schon zeigen, was man von ihr verlangte, und nach kurzer Einarbeitungszeit würde sie die jeweiligen Arbeiten bestimmt zur Zufriedenheit aller verrichten können.
Wanda schwang sich auf und lief durch die Kabine. Angestrengt starrte sie aus dem runden Fenster und versuchte, irgendetwas zu erkennen. Doch feine Nebeltröpfchen beschlugen die Scheibe und tauchten alles in eintöniges Grau.
Nun, sie wollte sich sowieso nicht in romantischen Reisebeobachtungen verlieren! Abrupt wandte sich Wanda ab.
Um Cousine Anna würde sie sich ebenfalls kümmern. Die machte sich höchstwahrscheinlich Vorwürfe, weil sie sich den Knöchel, wie Wanda in der Zwischenzeit erfahren hatte, beim Tanzen verstaucht hatte. Sicher konnte man fragen, warum Anna ausgerechnet in solch schwieriger Zeit tanzen gehen musste. Andererseits hätte sie sich den Knöchel überall verstauchen können, oder? Wanda nahm sich vor, Anna ihr schlechtes Gewissen auszureden.
Sie würde Frohsinn überall verbreiten, so viel stand fest.
Doch dann runzelte sie die Stirn. Wie kam es, dass fremde Menschen wie die Pferdeleute oder die Schwestern Lindström ihr mehr zutrauten, als ihre eigene Mutter das tat?
»Mische dich um Himmels willen nicht gleich in alles ein, sondern schau dir erst einmal an, wie’s bei Johanna und Peter zugeht. Und erwarte nicht, dass man dir Extrawürste brät«, hatte Mutter gesagt und angefügt, Wanda solle am besten nur das tun, was man ihr auftrug.
Wanda spürte einen Anflug von Erbitterung. GlaubteMutter, sich ihrer schämen zu müssen? Und das, nachdem sie ihr ein Leben lang eingebläut hatte, was sich schickte und was nicht?
Wanda ballte undamenhaft die Fäuste.
Verdammt, sie würde sich nicht nur zu benehmen wissen, sondern sie würde endlich allen einmal zeigen können, was in ihr steckte!
6
Als Johanna in Coburg ankam, war es zwanzig Minuten vor zwei Uhr. Wandas Zug sollte um zwei ankommen. Johanna verabschiedete sich in hastigem Französisch von Monsieur Martin und stieß die Tür seiner Mietdroschke auf, bevor der Kutscher vom Bock steigen konnte. Als sie durch das Portal der Bahnhofshalle trat, gönnte sie sich zum ersten Mal an diesem Tag einen Stoßseufzer. Geschafft!
Noch am Morgen hatte es nicht danach ausgesehen, dass sie Wanda in Coburg würde abholen können. Ohne Ankündigung war einer ihrer wichtigsten Kunden, Monsieur Martin aus Lyon, vor ihrer Tür erschienen, um für das Weihnachtsgeschäft seiner fünf Kaufhäuser nachzuordern. Bis Johanna mit ihm die ganze Produktpalette durchgegangen war, war der Zug nach Coburg längst weg gewesen. Natürlich hatte sie für diesen Fall der Fälle vorgesorgt – in ihrem letzten Brief an Wanda vor deren Abreise hatte sie die komplette Zugverbindung von Hamburg bis ins thüringische Coburg und von dort nach Lauscha fein säuberlich übermittelt. Wanda hätte also auch für das letzte Stück der Reise nur nach dem richtigen Zug fragen und einsteigen müssen. Aber sowohl Peter als auch Johanna waren der Ansicht, dass es sich eigentlich gehörte, Ruths Tochter schon in Coburg in Empfang zu nehmen, ja, es war Johanna sogar ein inneres Bedürfnis. Wenn eines von ihren Kinderneine so weite Reise tun würde, wäre sie schließlich auch beruhigt zu wissen, dass am anderen Ende jemand wartete. Dementsprechend verärgert war sie, als über die Martin-Bestellung der halbe Vormittag verging. Nicht, dass sie sich ihrem Kunden gegenüber etwas hätte anmerken lassen! Doch ihre innere Unruhe war Monsieur Martin nicht entgangen. Als er von ihrem Termin in Coburg erfuhr, ließ er es sich nicht nehmen, ihr eine Fahrt in seiner Kutsche anzubieten. Im ersten Moment zögerte Johanna; mit ihrem Vertrauen fremden Männern gegenüber – und erschienen sie noch so integer – war es nicht weit her. Doch dann besiegte ihr Wunsch, Wanda abzuholen, das Misstrauen. Auf der Fahrt hatte Monsieur Martin dann die beiden Rösser gejagt, als ob der Teufel hinter ihnen her wäre. Ganz wohl war Johanna bei der rasanten Fahrt zwar nicht gewesen, aber wenigstens waren sie pünktlich angekommen.
Außer ihr standen nur noch zwei Männer in schwarzen Mänteln und mit hochgeschlagenen Kragen am Gleis, die anderen
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