Die Amerikanerin
Reisenden hatten sich vor der herbstlichen Kälte in die Bahnhofshalle verzogen. Ein eisiger Wind wehte vertrocknetes Laub von einer mächtigen Kastanie auf den Bahnsteig; obwohl es früh am Mittag war, hatte man das Gefühl, es dämmerte schon. Von wegen »Goldener Oktober«! Ein besseres Wetter hätte Johanna sich für Wandas Ankunft schon gewünscht.
Sie schlang ihr Schultertuch enger, verharrte aber draußen am Gleis, wo sie den einfahrenden Zug schon von weitem sehen würde.
Wanda! Die kleine Wanda würde kommen – so richtig konnte Johanna es immer noch nicht glauben. Ihre Vorfreude hätte nur noch in einem Fall größer sein können, nämlich dann, wenn Ruth mitgekommen wäre.
In den ersten Jahren nach Ruths Weggang hatte Johanna ihre Schwester sehr vermisst. »Warum besuchst du uns nicht einmal?«, hatte sie Ruth immer und immer wieder in ihren Briefen angefleht. Und: »Hast du denn gar kein Heimweh nachThüringen?« Natürlich habe sie Heimweh, antwortete Ruth. Doch da waren die gefälschten Papiere, die einen Besuch in Thüringen unmöglich machten. Und später? Da hatte Ruth alle möglichen Gründe gehabt, die gegen eine Reise sprachen. Irgendwann hatte Johanna aufgehört, das Thema anzusprechen, doch die Sehnsucht nach ihrer Gefährtin aus Jugendjahren war geblieben. Und die wurde nur teilweise dadurch gelindert, dass sie sich nach wie vor fleißig schrieben.
Langsam kroch die Kälte durch Johannas Fußsohlen in ihre Beine. Mit steifen Schritten ging sie ein paar Mal auf und ab. Dann erinnerte sie sich daran, dass sich in den Tiefen ihrer Manteltaschen noch ein paar Handschuhe vom letzten Winter befinden mussten. Nachdem sie diese angezogen hatte, war die Kälte gleich erträglicher. Und das war gut so, denn es war klar, dass Wandas Zug Verspätung haben würde, inzwischen war es zehn nach zwei. Aber Vorfreude war ja bekanntlich die schönste Freude. Und wann kam es schon einmal vor, dass sie ihren Gedanken derart freien Lauf lassen konnte? Es war schön und ungewohnt zugleich, ein paar Minuten nur für sich allein zu haben. Johanna seufzte zufrieden auf und trat erneut eine Reise in die Vergangenheit an.
Seltsam, mit Ruth hatte sie sich immer mehr zu sagen gehabt als mit Marie. Vielleicht lag es daran, dass sie sich altersmäßig näher waren? Als ihre Mutter starb, waren Ruth und sie zehn und elfeinhalb Jahre alt gewesen und hatten für die achtjährige Marie gesorgt, so gut sie konnten. Und nach Vaters Tod, als sie plötzlich mit nichts dastanden, hatten abermals Ruth und sie die Dinge in die Hand genommen. Zumindest hatten sie sich das damals eingebildet, denn letztlich hatte ja Marie durch ihre Glasbläserei den Karren aus dem Dreck gezogen. Der Gedanke daran, wie sie sich damals in ihrem eigenen Unglück gesuhlt hatte, während das Nesthäkchen und Ruth mit ein paar Christbaumkugeln in der Hand nach Sonneberg marschiert waren, um einen Verleger zu finden, war Johannaheute noch peinlich. Aber nach dem schrecklichen Vorfall mit Strobel, ihrem damaligen Chef, war sie einfach nicht sie selbst gewesen. Wie gut, dass Marie damals die Gelegenheit beim Schopf gepackt hatte und … Johanna verspürte einen Stich in der Brust, als sie daran denken musste, dass nun auch Marie die einstige »Weiberwirtschaft« verlassen hatte. Vor allem, wie Marie gegangen war! Hätte sie nicht wenigstens noch einmal nach Lauscha zurückkommen können? Lose Enden zusammenknüpfen, aufräumen, klären können? Es gab Dinge in der Werkstatt, bei denen sie besser Bescheid wusste als alle anderen, beispielsweise, wenn es darum ging, Farben zu mischen! Stundenlang hatte Anna versucht, das Rot vom Nikolaus Nr. 17 hinzukriegen, aber jede ihrer Farbproben war vom Vorjahresmuster abgewichen. »Lass gut sein«, hatte Johanna schließlich gesagt, »wir haben noch andere Dinge zu tun.« Manchmal musste man Anna einen Riegel vorschieben, bevor sie sich in etwas verbiss wie ein Terrier ins Wadenbein.
Und dann war da noch Magnus. Johanna seufzte tief.
Da lebten Marie und er jahrelang wie Eheleute zusammen, und dann gab es nicht einmal ein »Auf Wiedersehen«! Keine Erklärung und kein »Es tut mir leid«.
Es war nicht so, dass Magnus Johanna wie ein Bruder ans Herz gewachsen war. Er und sie hatten sich nicht viel zu sagen, weder im Guten noch im Schlechten. Aber das hieß ja noch lange nicht, dass ihr dieser Mann völlig gleichgültig war! Wie er so vor sich hin trauerte, tat er Johanna abgrundtief leid. Aus einem Telegramm, das an
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