Die Amerikanerin
Stunden mitten in der Landschaft angehalten hat, ohne dass ein Mensch wusste, warum, ist es doch empfindlich kühl im Abteil geworden.« Als wolle sie ihre Aussage unterstreichen, nieste sie heftig.
»Na, hoffentlich wirst du nicht krank.« Johanna runzelte sorgenvoll die Stirn.
»Von wegen! Ich kann es doch kaum erwarten, Lauscha zu erkunden. Aber zuerst freue ich mich riesig darauf, die anderen kennenzulernen. Onkel Peter, Johannes, Anna und Magnus! Eigentlich habe ich gedacht …« Sie brach ab und schüttelte den Kopf.
»Was?« Lächelnd schaute Johanna sie an.
»Na ja …«, auf einmal war Wanda verlegen. »Eigentlich habe ich gedacht, dass die anderen vielleicht auch am Bahnhof …«
Johanna lachte schallend heraus. Ein Ehepaar auf der nächsten Bank schaute missbilligend.
»Du bist ja goldig! Und wer sollte dann deiner Ansicht nach die Arbeit machen?«
Wanda schoss die Röte ins Gesicht. Was redete sie so dumm daher, wo sie doch wusste, wie’s um die Werkstatt bestellt war!
»Aber ganz bei der Sache waren sie heute sicher nicht, weil sie kaum erwarten können, dass wir endlich heimkommen«, fügte Johanna hinzu.
Eine Zeitlang unterhielten sie sich über dies und das. Wie sie die Tage auf dem Ozeanriesen verbracht hatte, wollte Johanna wissen, und Wanda erzählte ihr von Wilmas Wichtigtuerei um ihren Kautschukverlobten. So kam die Rede auf Marie und Franco, von dem Johanna natürlich alles erfahren wollte. Es schmeichelte Wanda, dass Johanna sie wie eine Erwachsene behandelte, und sie hätte gern das eine oder andere pikante Detail über Franco de Lucca mitgeteilt, aber was wusste sie schon von ihm? Nur dass er ziemlich gut aussah. Also sagte sie: »Ihren schönen Italiener nennt Marie ihn immer.«
Johanna lächelte traurig. »Nicht, dass ich meiner Schwester ihr Glück nicht gönne …, aber das kam alles so plötzlich! Oder auch nicht, wie man’s nimmt. Sie war schon die ganzen Monate vor ihrer Abreise so komisch, dass ich manchmal dachte, hoffentlich hat sie nicht irgendeine innere Krankheit, die ihr die Lebenskraft wegfrisst. Aber scheinbar war sie einfach nicht mehr zufrieden mit ihrem Leben. Und dennoch – dass auch Marie einmal der Liebe wegen Lauscha so mir nichts, dir nichts verlassen würde, wer hätte das gedacht?« Johanna presste die Lippen aufeinander.
Wanda legte ihr eine Hand auf den Arm. Sie hätte ihre Tante gern getröstet, traute sich aber nicht.
Das Schweigen zwischen ihnen war nicht unangenehm. Wanda nutzte es, um Johanna aus dem Augenwinkel heraus verstohlen zu mustern. Die Ähnlichkeit zwischen den drei Schwestern war frappierend. Alle hatten dieselben ebenmäßigen Züge, die großen, dunklen Augen, in die man so tief blicken konnte, ohne dass sie viel offenbarten. Ihre Tante sah außerdem erstaunlich jung aus – und das trotz ihres strengen Kostüms. Auf den Fotos, die Wanda von ihr kannte, hatte sie wesentlich älter gewirkt, ein bisschen wie eine unerbittliche Schullehrerin, doch der Eindruck hatte wohl getäuscht. Während bei ihrer Mutter Schminke für einen porzellanglattenTeint sorgte, schien sich Johanna nicht einmal einen Hauch von Farbe ins Gesicht gepinselt zu haben – entweder war sie der Meinung, das nicht nötig zu haben, oder sie … hielt so etwas für weibischen Schnickschnack. Unwillkürlich begann Wanda, ihren Lippenstift abzulecken.
»Und? Was hast du dir für deine Zeit in Thüringen alles vorgenommen?«, hob Johanna erneut an. »Bis zum Jahresende geht es zwar noch mal ziemlich heiß bei uns her, aber danach bleibt sicherlich Zeit für ein paar Ausflüge, vorausgesetzt, das Wetter macht mit. Wenn du besondere Wünsche hast, musst du es mich nur wissen lassen.«
»Ich will auf gar keinen Fall, dass ihr wegen mir Umstände macht, ganz im Gegenteil«, erwiderte Wanda bestimmt. »Ich möchte einfach nur … bei euch sein. Das tun, was ihr tut. Weißt du, Marie hat mir so viel von eurer Werkstatt erzählt …« Auf einmal fiel es ihr schwer, ihre Sehnsucht in Worte zu kleiden.
»Und sicher willst du auch eine ganz bestimmte Person kennenlernen …« Johannas Brauen hoben sich vielsagend.
»Stimmt«, antwortete Wanda mit Nachdruck. Dass ihre Tante das Thema so bald ansprechen würde, hätte sie nicht gedacht. »Ich …, weiß mein … mein Vater schon, dass ich komme?« Während sie sprach, ärgerte sie sich über ihr klopfendes Herz.
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich ja. In Lauscha weiß ja jeder über jeden Bescheid. Irgendjemand wird
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