Die Amerikanerin
sie alle gerichtet war, von Maries Heirat erfahren zu müssen – das hatte er nicht verdient.
Johanna wischte sich mit ihrer behandschuhten Hand eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie wollte heute nicht an Marie denken. Heute war ein Freudentag.
Vor einem der Bahnhofsfenster blieb sie stehen und versuchte verstohlen, ihr Spiegelbild einzufangen. Was sie sah,machte sie nicht unzufrieden. Noch immer hatte sie die schlanke Silhouette eines jungen Mädchens, der Zopf, der ihr lang und schwer den Rücken hinabfiel, besaß noch immer den kastanienbraunen Schimmer, um den sie und ihre Schwestern schon in jungen Jahren von anderen Mädchen beneidet wurden. Lediglich je eine graue Strähne zog sich links und rechts vom Stirnansatz nach hinten – Peter behauptete, dies würde ihrem Aussehen eine »besondere Note« verleihen. Peter! Als ob man auf seine Aussage in dieser Hinsicht etwas geben konnte … Johanna musste schmunzeln. Wenn sie sich bei ihm über die Falten beschwerte, von denen sich immer mehr auf ihrer Stirn zeigten, schaute er sie nur verständnislos an und sagte, sie sehe immer noch wie ein junges Mädchen aus. Nun ja, das stimmte sicher nicht ganz, aber wenn Johanna ehrlich war, war sie mit ihrem Aussehen ziemlich zufrieden. Sie warf ihrem gläsernen Spiegelbild einen letzten Blick zu. Eigentlich hatte sie für Wandas Ankunft etwas Festliches anziehen wollen, doch wegen des Franzosen war ihr dafür keine Zeit mehr geblieben. Aber im Grunde fühlte sie sich in ihrer Arbeitskleidung, so nannte sie ihr dunkelblaues Kostüm, immer noch am wohlsten. Sie grinste. Wahrscheinlich würde Ruth vor Schreck umfallen, wenn sie wüsste, dass sie dem Kleiderstil ihrer Jugendjahre treu geblieben war! Aber modischer Schnickschnack war nun einmal das Letzte, was sie in der Werkstatt benötigte. Wichtig war nur, dass die Kundschaft einen guten Eindruck von ihr bekam.
Ein Räuspern neben ihr riss Johanna aus ihren Gedanken.
»Entschuldigen Sie, gnädige Frau, aber warten Sie vielleicht auf den Zug aus Braunschweig?«
»Ja, was ist mit ihm?« Erschrocken starrte Johanna den Bahnbeamten an, der mit einem aufgeklappten Buch in der Hand neben ihr aufgetaucht war. Es war doch hoffentlich nichts passiert?
»Eine Verspätung von zirka zwei Stunden, warum, weiß ichallerdings nicht. Ich dachte, ich sage Ihnen Bescheid, damit Sie sich hier draußen nicht den Tod holen. Im Wartesaal ist’s wenigstens warm.« Er tippte an seine Kappe, nickte ihr noch einmal aufmunternd zu und ging dann weiter, um die anderen Wartenden zu informieren.
Und dafür hatte sie sich so abgehetzt! Ärgerlich lief Johanna in Richtung Wartehalle. Sie wollte sich gerade nach einem freien Sitzplatz umschauen, als ihr Blick aus dem Bahnhofsfenster auf ein Schild mit der Aufschrift »Coburger Stadtcafé« fiel. Eine Tasse Kaffee und ein süßer Krapfen – warum eigentlich nicht? Ohne zu zögern stemmte sie das schmiedeeiserne Portal auf, das der Kälte wegen geschlossen war. Wenn sie schon warten musste, konnte sie sich die Zeit auch angenehm vertreiben.
*
Mit einem schrillen Quietschen setzte sich der Zug in Bewegung. Noch ein paar Meilen, dann würden sie in Lauscha ankommen.
»Ich kann’s gar nicht glauben, ich bin endlich hier!« Wanda fiel ihrer Tante, die neben ihr auf der hölzernen Bank saß, erneut um den Hals. Auf einmal war ihr so weinerlich zumute, dass sie Mühe hatte, die Tränen, die schon gegen ihre Lider drückten, zurückzuhalten. »Endlich in der Heimat«, fügte sie mit tiefbewegter Stimme hinzu.
Johanna bedachte sie mit einem erstaunten Blick.
»Weit ist’s doch jetzt nicht mehr, oder?« Angestrengt schaute Wanda aus dem Fenster, doch außer Wald konnte sie nicht viel sehen. Ihre Augen brannten, und sie rieb sich schnell mit beiden Händen darüber.
»Nein, weit ist es nun nicht mehr«, tröstete Johanna sie. »Mein armes Mädchen! Bist sicher fürchterlich müde nach dieser langen Reise.« Wie einem kleinen Kind strich sie Wanda über den Kopf.
»Es geht schon.« Wanda winkte ab. Sie musste aufpassen, dass sie nicht losheulte, so jämmerlich war ihr auf einmal zumute.
Seit ihr Zug in Hamburg losgefahren war, hatte sie insgesamt fünf Mal umsteigen und jedes Mal das Umladen ihres Gepäcks beaufsichtigen müssen, immer mit der Angst im Nacken, ein Koffer würde an einem Bahngleis stehen bleiben oder gestohlen werden. Nun mischte sich Erschöpfung in ihre Wiedersehensfreude.
»Mir ist nur ein bisschen kalt. Seit der Zug zwei
Weitere Kostenlose Bücher