Die Amerikanerin
aussuchen, was sie dringend brauchte. Alles würde man keinesfalls im freigeräumten Kleiderschrank unterbringen können, hatte Johanna gemeint.
Nur langsam gewöhnten sich Wandas Augen an die trübe Beleuchtung im Treppenhaus, dessen abgewetzter weinroter Teppich im Eingangsbereich schmutzige Fußtapsen aufwies.
Das war also Mutters Geburtshaus!
Der Geruch nach Zwiebeln und Bratfett stieg ihr in die Nase, die sogleich zu laufen begann. War es möglich, dass es im Haus noch kälter als draußen war?
»… und das ist Anna, deine Cousine.«
Wanda, gerade eben der bärigen Umarmung ihres Onkels entkommen, griff nach der Hand, die sich ihr entgegenstreckte. Sie war nicht sonderlich warm und sehr fest im Druck. Einen Moment lang glaubte Wanda, Anna würde sie genauso linkisch umarmen wie ihr Bruder Johannes, doch es blieb beim Händeschütteln.
»Du bist also die sagenhafte Glasbläserin, die nächtelang an ihrem Bolg sitzt! Ich habe schon viel von dir gehört. Du musst wissen, dass Marie von deinen Künsten geradezu schwärmt.« Wanda bemühte sich um einen warmen Ton in ihrer Stimme. Etwas kitzelte in ihrer Nase, sie hatte Mühe durchzuatmen. War das der Beginn einer Erkältung oder etwa der Werkstattgeruch, der ihr zu schaffen machte? Marie hatte sie vor den Chemikalien, die man zum Verzieren derGlaswaren benötigte, gewarnt, aber dass es so nach faulen Eiern stinken würde …
Anna schaute kurz zu ihrer Mutter, als brauche sie deren Erlaubnis für eine Antwort.
»Ich mache bloß meine Arbeit, mehr steckt nicht dahinter«, erwiderte sie dann ernsthaft. »Herzlich willkommen in Lauscha, Cousine.«
Oje, mit der werde ich nicht klarkommen, schoss es Wanda durch den Kopf, und sie war froh, als im nächsten Moment Magnus ihr die Hand entgegenstreckte.
7
Wie jeden Morgen, wenn Marie erwachte, war die Sonne, die sich in einem wärmenden Band quer über ihr Bett gelegt hatte, das Erste, was sie wahrnahm. Wie konnte so spät im Jahr – in Lauscha schneite es Anfang November schon! – die Sonne noch eine derart intensive Wärme ausstrahlen, fragte sie sich und schlängelte sich unter Francos Arm, der schwer über ihrem Bauch lag, so weit nach links, dass die Sonne ihr direkt ins Gesicht schien. Eine winzige Minute noch …
» Mio amore, komm wieder zu mir«, murmelte Franco und rutschte im selben Moment auf ihre Seite hinüber. »Geht es meiner Prinzessin gut?«
»Hmm.«
»Und unserem Kind?«
»Hmm.« Sie küsste ihn auf den Mund. Nicht reden. Still sein und den Tag kommen lassen.
Marie liebte diese Stunde zwischen Schlaf und Wachsein am meisten von allen Tageszeiten. Mit Franco im Bett, nur einen dünnen Batistvorhang von der Genueser Sonne entfernt, die erwachende Stadt mit ihren Fischweibern, Hausfrauen, Handwerkern und Kindern auf dem Weg zur Schule nahe, jedochnicht in Hörweite – so gelang es ihr manchmal sogar, sich vorzustellen, wieder auf dem Monte Verità zu sein, wieder die Leichtigkeit zu spüren und die süße Freiheit, die jede Faser ihres Bewusstseins erfüllt hatte. In diesen Minuten fühlte sie sich wie im Paradies.
Tagsüber fand sie das Leben im Palazzo weniger paradiesisch, und mit Freiheit hatte es auch nicht viel zu tun, ganz im Gegenteil: Die Liste der ungeschriebenen Gesetze, was man tat und was nicht, war lang. Einfach ein Glas Wasser aus der Küche holen? Unmöglich. Zuerst musste man nach einem Zimmermädchen klingeln, diesem seinen Wunsch mitteilen und dann warten, bis er ausgeführt wurde. Ob Marie bis dahin halb verdurstet war, interessierte niemanden! Es mache ihr nichts aus, das Bett selbst aufzuschütteln, hatte sie Franco gleich zu Anfang gesagt. Im Gegenteil, sie kam sich komisch dabei vor, wenn Zimmermädchen diese Arbeit für sie verrichteten. Außerdem störte es sie, wenn die Mädchen immer dann hereinplatzten, wenn sie gerade arbeitete und ungestört sein wollte. Doch davon hatte Franco nichts hören wollen. »Lass dich verwöhnen und genieße dein Leben!«, war sein Ratschlag gewesen. Dabei war es geblieben. Als Marie vorschlug, das Frühstück für Franco und sich selbst zuzubereiten, hatte Francos Mutter, die Contessa Patrizia, dreingeschaut, als ob Marie den Wunsch geäußert hätte, die Latrinen zu reinigen.
»Dolce far niente!« Franco räkelte sich wie eine Katze. »Einfach im Bett liegen bleiben, das wäre nicht das Dümmste, oder?« Er küsste Marie auf die Nase.
»Kannst du Gedanken lesen?«, fragte sie zurück und vergrub ihr Gesicht in der Kuhle
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