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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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Whaler’s Way ab, rollte an einigen Apartmenthäusern vorbei und hielt hinter einem verbeulten Pick-up.
    Als ich den Motor abstellte, konnte ich das Getöse des Ozeans hören, der irgendwo vor uns in der Dunkelheit lag.
    »Okay, Soldaten«, sagte ich. »Es geht los.«
    Wir stiegen aus, Hopper streckte sich gähnend. Ich schloss das Auto ab und gab Nora die Schlüssel.
    »Soll Hopper mitgehen?«, fragte ich sie.
    »Das werde ich noch schaffen«, sagte sie gereizt. Sie warf sich ihre graue Tasche über die Schulter, drehte auf dem Absatz um und schob ab.
    Wir sahen ihr nach. Ihre Schritte knirschten auf dem Gehsteig, der Saum ihres Kleids blitzte grün auf, als sie an einer Laterne vorbeiging. Sie war angezogen wie eine Mischung aus Lily Munster, Cinderella und einem Punk, mit ihrem erbsengrünen Samtkleid, schwarzen Häkelstrumpfhosen, Moes Motorradstiefeln und schwarzen Halbfingerhandschuhen.
    »Vielleicht solltest du hinterher«, sagte ich. »Um zu sehen, ob sie da in Sicherheit auf uns warten kann.«
    Hopper zuckte mit den Schultern. »Sie macht das schon.«
    »Gut zu wissen, dass es noch echte Ritterlichkeit gibt.«
    Er sah ihr bloß mit zusammengekniffenen Augen nach. Nora zog die Tür des Diner auf und verschwand im Lokal. Als sie nicht wieder herauskam, schloss ich den Reißverschluss meiner Jacke und ging die Straße hinunter.
    »Lass uns anfangen«, sagte ich und sah auf meine Uhr.

48
    Wir gingen an einem Holzzaun entlang über den Whaler’s Way zum Strand, wo das Licht der Straßenlaternen nicht hinkam. Ich holte meine Taschenlampe hervor. Wir stapften durch den Sand einen Anstieg hinauf. Ein eiskalter Gegenwind blies uns so heftig entgegen, dass meine Kleidung ihm nicht gewachsen war. Weil ich den Dresscode im
Oubliette
nicht kannte, trug ich schwarz – Lederjacke, Anzughose, Button-Down-Hemd. Ich hoffte, dass dieser russische
Vor
-Look (
Vor
ist ein russischer Slangbegriff für Gangsterboss) den Leuten vermitteln würde, mich besser in Ruhe zu lassen.
    Der Wind wurde stärker, und der Atlantik polterte ohrenbetäubend, als wir den Hügel erklommen hatten. Der Strand sah menschenleer aus. Der Ozean war rau und voller Schaumkronen, die Wellen krachten mit Gewalt ans Ufer. Ihre weißen Explosionen waren die einzige Unterbrechung in dieser Kuppel der Dunkelheit, die uns umgab.
    In Richtung Osten waren in einiger Entfernung Apartmentgebäude und Häuser zu erkennen – alle waren dunkel und wirkten so, als seien sie bereits winterfest gemacht worden –, und hinter den Laternen der Stadt erhoben sich am Ufer die steilen Klippen von Montauk.
    Duchamps Treppe.
    Der Hinweis war zumindest mehrdeutig. Ich kannte das modernistische Gemälde von 1912 , auf das er sich zu beziehen schien: Marcel Duchamps
Akt, eine Treppe herabsteigend Nr.  2
. Nora und ich hatten das Bild gegoogelt, bevor wir die Perry Street verließen. Doch wie ich
das
mit irgendetwas an
diesem
Strand in Verbindung bringen sollte, war mir schleierhaft.
    Ich drehte mich zu Hopper um, aber er war schon zum Wasser hinuntergegangen und stand regungslos da. Sein Mantel peitschte hinter ihm im Wind, das Meerwasser schäumte Zentimeter von seinen Füßen entfernt. Er wirkte so dunkel und melancholisch, wie er da nachdenklich die donnernden Wellen betrachtete, dass ich mich fragte, ob er vielleicht einfach in die Wellen gehen wollte, um sich von ihnen verschlucken zu lassen.
    »Hier geht’s lang«, rief ich, meine Stimme war gegen den Wind kaum zu hören.
    Er musste mich gehört haben, denn er drehte sich um und folgte mir.
    Wir kamen nur langsam voran.
    Der Strand war übersät mit den Spuren eines Sturms – verwirrte Stränge Seegras, zermalmte Muscheln, Flaschen und Steine und lange, knochige Arme aus Treibholz, die sich aus dem Sand herausstreckten. Während wir uns weiterschleppten, wurde der Wind noch stärker. Er versuchte, uns zurückzustoßen. Die salzige Luft peitschte scharf das Gesicht. Wir gingen an Reihen von kastenartigen Apartmentgebäuden mit leeren Veranden vorbei, an Parkplätzen und Motels mit dunklen Willkommen-Schildern. Ich sah mir jede der abgenutzten Treppen, die zum Strand herunterführten, genau an. Ich suchte nach einem Zeichen von Leben – aber da war nichts.
    Wir waren allein hier draußen.
    Nach zwanzig Minuten hatten wir die Stadt Montauk hinter uns gelassen und waren in Ditch Plains angekommen, dem Surferstrand. Er war leer, nichts war zu sehen außer einem verlorenen Knöchelband, das halb im Sand vergraben lag.

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