Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
Vom Netzwerk:
Treppe erreichte, klemmte ich meinen Stiefel zwischen zwei Felsen, um sicher zu stehen, und sah hinauf. Eine Wache versuchte tatsächlich, herunterzuklettern. Die gesamte Treppenkonstruktion zitterte unter seinem Gewicht. Ich griff eine besonders vermoderte Planke und schaffte es nach einigen Versuchen, sie loszureißen. Ein großer Teil des Geländers löste sich mit ab. Ich warf das Holz hinter mir ins Wasser und kletterte über die Felsen davon, durchnässt von einer weiteren Welle.
    Nach ein paar Metern blickte ich mich wieder um.
    Der Mann auf der Treppe war oberhalb der Stelle, die ich zerstört hatte, durch einen Teil der Stufen gebrochen und hielt sich an der Klippe fest. Anscheinend wartete er auf Hilfe. Ich kletterte weiter durch einen besonders heiklen Abschnitt, in dem ich mich kaum festhalten konnte. Ich wollte gerade den Gedanken zulassen, dass ich entkommen war, als sich plötzlich eine gewaltige Welle mit aller Macht gegen die Felsen warf.
    Ich verlor den Halt und kippte nach hinten um. Sofort umgab mich ohrenbetäubender Donner, die Welle schleuderte mich kopfüber und ich verschluckte mich an Salzwasser. Es gelang mir, mich zurück an die Oberfläche zu kämpfen und nach Luft zu schnappen. Doch Sekunden später kam schon die nächste Welle, die mich hinauszog und dann gegen die Klippe schleuderte. Mit aller Kraft schaffte ich es, mich auf einen Felsbrocken zu retten, gegen den mich das Wasser gedrückt hatte. Ich hustete Salzwasser aus.
    Ich hob meinen Kopf, meine Augen brannten. Ich war allein in einer schmalen Bucht. Ich saß zusammengekrümmt auf dem Felsen und wartete, dass eine der Wachen auftauchte.
    Doch es kam niemand.
    Der Himmel verfärbte sich bereits silbergrau, als ich unter mir einen Streifen Sand entdeckte. Ich sprang hinab und joggte los, an stillen Häusern und Zäunen vorbei zum Whaler’s Way. Der menschenleere Weg war im trüben Morgenlicht kaum zu erkennen.
    An der Kreuzung zur South Emerson Avenue blieb ich abrupt stehen und starrte auf die leere Parklücke.
    Mein Auto war weg.
    Fassungslos ging ich die Straße entlang zum Sea Haven und suchte den Parkplatz ab. Von meinem Wagen keine Spur, dort parkten nur ein silberner Pick-up und ein Subaru. Ich ging hinein und musste feststellen, dass das Diner fast leer war, abgesehen von einem alten Mann in einer der hinteren Nischen und einer rothaarigen Bedienung, die über die Theke gebeugt in einer Zeitschrift las.
    »Sie sehen nach Schiffbruch aus«, sagte sie, als ich auf sie zuging.
    »Ich suche nach einer jungen Frau. Blond. Grünes Kleid. War sie hier?«
    Sie lächelte. Offensichtlich wusste sie, von wem ich sprach. »Meinen Sie Nora?«
    »Genau.«
    »Klar, die war hier.«
    »Okay, und wo zur Hölle ist sie jetzt?«
    »Keine Ahnung. Die ist vor einer Stunde los.«
    Ich ließ mich auf einen der Hocker an der Theke fallen und zog meine Lederjacke aus, die immer noch vor Salzwasser tropfte.
    »Ich hätte gerne Kaffee, drei gewendete Spiegeleier, Speck, Toast und Orangensaft.«
    Die Bedienung verschwand durch die Schwingtür. Als sie mit dem Kaffee zurückgekehrt und mir eingeschenkt hatte, seufzte sie schwer und verschränkte die Arme.
    »Ein Kerl hat sie angerufen. Sie ist total aufgeregt rausgelaufen.«
    Ich sah sie an und trank einen Schluck. »Auf dem Handy?«
    »Nein. Der Empfang ist hier scheiße. Nur ein Strich. Er hat im Diner angerufen und nach ihr gefragt. Und Sie sind, nehme ich an, ihr Vater, der sie abholen will?« Sie wartete keine Antwort ab, sondern nickte nur wissend. »Keine Ahnung, wie Ihr Väter damit klarkommt. Die Mädchen rennen immer den bösen Jungs hinterher. Und dann noch das Internet, das macht es noch zehnmal schlimmer, mit den ganzen Stalkern und Sexverbrechern.«
    Ich musste nicht lange auf mein Frühstück warten,
Gott sei Dank.
    Ein paar Ortsansässige kamen herein, aber von Hopper oder Nora war nichts zu sehen.
    Nachdem ich aufgegessen hatte, versuchte ich sie anzurufen, doch die Kellnerin hatte recht: kein Handyempfang. Ich versuchte es mit dem Telefon an der Kasse, aber bei beiden schaltete sich nach einer Weile die Mailbox ein.
    Ich stieg in den 09 : 45  Uhr-Zug der Long Island Railroad, der mich zurück in die Zivilisation bringen würde – falls man Manhattan so bezeichnen konnte –, und schlief ein, bevor wir den Bahnhof verlassen hatten.

53
    Als ich in der Stadt ankam, war es nach Mittag. Noch immer hatten sich Hopper und Nora nicht gemeldet. Ich fuhr mit dem Taxi zurück in die Perry

Weitere Kostenlose Bücher