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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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auf ihrem Weg zu Peg Martin bei einem weißen Mini-Chihuahua an, der mehr Lamé trug als eine Nutte in Newark. Sie verbrachte eine Minute damit,
diesen
Hund zu begrüßen, bevor sie zu dem schwarzen Labrador weiterging. Cynthia hatte ihr offensichtlich eingetrichtert, dass sie erst um Erlaubnis bitten musste, wenn sie ein fremdes Tier berühren wollte, denn ich konnte hören, wie sie höflich erst Peg Martin und dann den Hund selbst fragte, ob sie ihn streicheln dürfe.
    Beide mussten einverstanden gewesen sein, denn jetzt berührte Sam ganz sanft und respektvoll den ergrauten Kopf des Hundes. Seine Augen blickten müde und starr. Sie streichelte nur mit dem kleinen Finger den Zentimeter Fell zwischen seinen Augenbrauen.
    Ich schlenderte an den anderen Hundehaltern vorbei, die am Zaun standen, auf sie zu.
    »Ist es in Ordnung, dass sie ihn streichelt?«, fragte ich, als ich vor Peg Martin stand.
    »Natürlich«, antwortete sie und sah mich an.
    »Beißt er auch nicht?«
    Sie hatte ihre Aufmerksamkeit bereits wieder auf die Hunde vor ihr gerichtet.
    »Nein.«
    Das war Peg Martin, ganz klar.
    Ihr Haar war dünner und in einem künstlichen Rotton gefärbt, irgendetwas zwischen Herbstlaub und Rüben. In »Isolate  3 « hatte sie so lebendig, so überdreht gewirkt. Jetzt, viele Jahre später, kam sie mir gedämpft und verbraucht vor. Die Erschöpfung saß ihr in den Knochen.
    »Wie heißt du?«, fragte Sam den Hund, der nicht darauf reagierte.
    »Wie heißt er denn?«, fragte ich Peg.
    Sie wirkte irritiert, schon wieder angesprochen zu werden.
    »Leopold.«
    »
Leopold
«, sagte Sam. Sie tätschelte seinen Kopf mit der flachen Hand, wie mit einem Spachtel.
So hätte sie auch Zuckerguss auf einem Kuchen verteilen können.
    »Sie kommen mir bekannt vor«, sagte ich mit einem Blick auf Peg. »Sie unterrichten nicht zufällig in der Saint Thomas Sunday School, oder?«
    Das schien sie zu verwirren.
    »Äh,
nein
. Das bin ich auf keinen Fall.«
    »Dann hab ich mich vertan.«
    Sie lächelte dünn und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Hunde.
    Ich sah mir das Treiben ebenfalls eine Minute lang an, um nicht aufdringlich zu erscheinen. Ein aufgekratzter Dalmatiner war der Anführer des Rudels. Diese weiße Asphaltschwalbe von einem Chihuahua drehte ihre Runden – sie jaulte, um einen Freier anzulocken –, doch alle Rüden waren ganz vernarrt in einen durchnässten Tennisball.
    »Okay«, sagte ich. »Das ist jetzt gewagt und Sie werden mich wahrscheinlich für verrückt halten.«
    Sie sah mich argwöhnisch an.
    »›Isolate 3 ‹. Die Putzfrau mit dem gebrochenen Arm. Das waren Sie, oder?«
    Sie blinzelte überrascht. Sie wurde nie erkannt. Ich war sicher, dass ich es mit meinem Erstaunen übertrieben hatte, doch sie nickte.
    »Das stimmt.«
    »Sie waren toll. Ohne Sie wäre ich verrückt geworden.«
    Sie lächelte und errötete leicht.
    Es ist eine allgemein anerkannte Tatsache, dass ein Schauspieler gar nicht oft genug hören kann, wie phantastisch er oder sie in einer Rolle war.
    »Ich muss das fragen. Wie war er so? Cordova.«
    Ihr Lächeln erlosch wie ein Streichholz, das man ausgepustet hatte. Sie sah auf ihre Uhr, packte die Gurte ihres Rucksacks und hob ihn mit der Armbeuge auf den Schoß, um zu gehen. Doch zu meiner Erleichterung hatte Sam es geschafft, Leopold komplett für sich zu gewinnen. Er wedelte mit dem Schwanz, der sich wie ein Scheibenwischer hin und her bewegte. Als sie das sah – und Sam, die mit dem Hund leise etwas von enormer Wichtigkeit diskutierte –, zögerte sie.
    »Wirklich tragisch, was mit seiner Tochter passiert ist«, stellte ich fest.
    Peg kratzte sich an der Nase.
    »Aber eigentlich überrascht es mich nicht«, fuhr ich fort. »Wer in der Lage ist, sich so abgedrehte Sachen auszudenken, muss doch persönlich ganz schrecklich sein. Das geht gar nicht anders. Nehmen Sie Picasso. O’Neill. Tennessee Williams. Capote. Waren das Strahlemänner, die ständig gute Laune verbreiteten? Nein. Nur die schlimmsten Dämonen können einen dazu treiben, so kraftvolle Werke zu erschaffen.«
    Ich dachte, wenn ich die Frau mit Worten plattwalzte, würde sie nicht einfach aufstehen und gehen. Sie lehnte sich auf der Bank zurück und musterte mich gedankenverloren.
    »Vielleicht«, sagte sie. »Von außen kann man eine Familie nicht beurteilen. Aber ich …«
    Sie verstummte, weil der verdammte Tennisball gerade genau hinter ihre Füße gerollt war. Sie beugte sich hinab und hob ihn auf. Die Hunde

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