Die amerikanische Nacht
und den Ärmeln seines hautengen, silbernen Polyester-T-Shirts hervor. Er wirkte unbekümmert und selbstsicher, als sei er es gewohnt, dass Leute durch den gesamten Laden liefen, um zu seinem Arbeitsplatz zu gelangen –
das Tätowierstudioäquivalent zum Büro des großen Vorsitzenden im Himmel
– und ihn nach seiner Meinung zu fragen, wie wir es jetzt taten.
Er musterte uns gelangweilt, sah sich das Foto an und beugte sich wieder über seinen Kunden.
»Klar. Die war so vor zwei Wochen hier.«
»Welche Farbe hatte ihr Mantel?«, fragte Nora.
»Der war rot. Und schwarz an den Ärmeln.«
Nora warf mir einen erstaunten Blick zu.
»War sie da, um sich tätowieren zu lassen?«, fragte ich ihn.
»Nee. Sie wollte ihr Nachher-Foto.«
»Ihr
Nachher-Foto
? Was ist das?«
Tommy unterbrach seine Arbeit, um mich anzustarren. »
Nachdem
wir mit dem Tattoo fertig sind, machen wir ein Scheißfoto davon.« Er deutete auf eine Wand, die voller Fotografien lächelnder Menschen mit gerade fertiggestellten Tätowierungen hing.
»Sie hatte ein tolles Doppel, ein Kirin am Knöchel«, fuhr er fort und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. »Sie wollte wissen, ob wir das Nachher-Foto noch hatten.«
»Ein
Doppel
?«
»Ein Tattoo auf zwei Menschen. Wenn man sie einzeln sieht, macht es nicht viel her. Aber zusammen, wenn sie die Arme nebeneinanderlegen, Hand in Hand, krank vor Liebe und so, dann ist das was. Wie bei ›Jerry Maguire‹: ›Du vervollständigst mich‹ und so.«
Na klar
– Ashleys Tätowierung am Fußgelenk zeigte nur eine Hälfte des Tieres, den Kopf und die Vorderbeine.
»Sie sagen, sie hatte ein Kirin tätowiert?«, fragte ich.
»Das ist bei Fans von japanischen Tattoos beliebt. Ein Fabelwesen.«
»Hat sie erwähnt, wer die andere Hälfte hat?«, fragte Nora.
»Nee. Aber das machen vor allem Liebespaare, frisch Verheiratete oder Paare, die getrennt werden, weil einer in den Knast muss. Ich hab letzte Woche eins gemacht. Ein Pärchen Mitte siebzig. Die sind mit dem Auto den ganzen Weg von Fort Myers angereist, um ihren fünfzigsten Hochzeitstag zu feiern. Ich hab irgendwo das Nachher-Foto.«
Er schaltete seine Tätowierpistole aus und wirbelte mit seinem Drehstuhl herum, um auf dem unaufgeräumten Schreibtisch hinter ihm nach dem Bild zu suchen. Die schwarzen Latexhandschuhe ließen jede seiner Bewegungen dramatisch aussehen, wie die eines Fassadenkletterers oder eines Pantomimen. Er fand das Foto und reichte es Nora. Dann schaltete er die Pistole wieder ein und beugte sich hinab, um nach seinem Kunden unten auf der Liege zu sehen.
»Wie geht’s dir da unten, Mel?«
»Alles cool.«
Mel machte keinen coolen Eindruck. Der Sabber lief ihm aus dem Mund und tropfte auf den Boden.
Nora gab mir das Foto.
Es zeigte zwei grinsende Rentner, die ihre Arme umeinandergelegt hatten und die gleichen gelben Polohemden und khakifarbenen Bermudashorts trugen. Oben auf ihrem rechten und seinem linken Fuß war ein rotes geflügeltes Herz tätowiert. Wenn sie ihre Füße nebeneinanderstellten, war das Motiv komplett.
Es war ein bisschen zu kitschig für meinen Geschmack, aber Nora war hingerissen.
»Ich sag zu allen Kunden, die reinkommen und ein Doppel wollen«, fuhr Tommy gutgelaunt fort, »ihr müsst euch tausendprozentig sicher sein. Ich weiß gar nicht, wie oft hier Mädchen einen Monat später heulend reinkommen und das Tattoo ändern lassen wollen, weil ihre große Liebe mit der besten Freundin abgehauen ist. Erst dachte ich, dass Ihre Freundin deshalb hier war.« Er nickte mir zu. »Aber sie wollte bloß das Foto.«
»Hat sie gesagt, wieso?«, fragte ich.
»Nee.«
»Und hat sie es bekommen?«, fragte Nora.
»Nein. Das Tattoo war schon ziemlich lange her, 2004 , da war ich noch in meinem alten Laden im Chelsea Hotel. Beim Umzug sind Sachen weggekommen. Ich hab ihr erlaubt, unsere Akten durchzusehen. Sie hat ein paar Stunden lang gesucht. Aber nichts gefunden.«
»Wir haben eine Quittung, die besagt, dass sie etwas gekauft hat«, sagte ich und zog sie aus der Manteltasche hervor.
Er sah nicht einmal auf.
»Da war ein junger Soldat auf Urlaub. Er wollte ein Porträt seiner Frau über dem Herzen. Sie war auch Soldatin und ist drüben gefallen. Er war völlig durch den Wind, aber es musste unbedingt ein richtiges Tattoo sein. Er hatte bloß kein Geld. Wir haben uns geeinigt, nur den Namen zu machen. Aber dann hat Ihre Freundin die Kosten übernommen. Hat keine große Sache daraus gemacht.«
Nora sah mich
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