Die amerikanische Nacht
ohne jede Nachricht?«
Hopper stand gähnend auf und streckte sich. »Wir sehen uns morgen früh.«
»Morgen früh?«, fragte ich.
Nora nickte. »Morgen hängen wir Ashleys Vermisstenplakat in der Nähe der 83 Henry Street auf.« Sie reichte mir ein Blatt mit dem gescannten Foto von Ashley, das Nora in Briarwood gefunden hatte.
HABEN SIE DIESES MÄDCHEN GESEHEN ? BETRÄCHTLICHE BELOHNUNG FÜR ERNSTGEMEINTE INFORMATIONEN . BITTE ANRUFEN .
»Die falschen Meldungen sortieren wir aus, indem wir nach der Farbe von Ashleys Mantel fragen.«
Hopper brach auf, ich ging in mein Büro und Nora schrieb weiter in ihr Notizbuch. Hopper hatte herausragende Investigativarbeit geleistet, als er die Gästeliste beschaffte, viel besser als alles, was ich in letzter Zeit zustande gebracht hatte – auch wenn ich das niemals zugegeben hätte. Ich verbrachte die nächsten Stunden damit, die
Oubliette
-Gästeliste mit einer Liste der Cordova-Schauspieler und sonstiger Menschen aus seinem Umfeld zu vergleichen, für den unwahrscheinlichen Fall, dass ein Name auf beiden Listen auftauchte – vergeblich. Aber damit war eines ausgeschlossen: Die Person, wegen der Ashley im
Oubliette
gewesen war – die
Spinne
– hatte vermutlich nichts mit der Arbeit ihres Vaters zu tun.
War es ein Freund von ihr? Ein Fremder? Hatte er etwas mit ihrem Tod zu tun?
Ich schaltete die Lampe aus, rieb mir die Augen und trat aus dem Büro auf den Flur.
Die Wohnung war ruhig. Nora hatte die Umkehrkerzen ausgepustet, bevor sie nach oben gegangen war, doch seltsamerweise glimmten die Dochte noch immer, als weigerten sie sich, ausgelöscht zu werden,
drei orangefarbene Nadelstiche in der Dunkelheit
. Ich nahm sie, warf sie ins Spülbecken in der Küche und ließ Wasser darüberlaufen, bis ich sicher war, dass sie aus waren. Dann löschte ich das Licht und ging ins Bett.
59
»Hopper hat versprochen zu kommen«, sagte Nora und suchte angestrengt die Straße ab. »Die Flyer aufzuhängen war
seine
Idee.«
Es war neun Uhr morgens und wir standen wieder vor der 83 Henry Street, bewaffnet mit hundert Vermisstenplakaten. Wir beschlossen uns zu trennen: Ich übernahm die Häuserblöcke westlich der Manhattan Bridge bis zum East Broadway und der Bowery, während Nora sich um alles östlich der Brücke kümmerte.
Das Viertel war überwiegend chinesisch, deshalb bezweifelte ich, dass uns unsere englischen Flyer weiterbringen würden. Flugblätter aufzuhängen, als wäre Ashley eine entlaufene Katze, war eigentlich nicht mein Stil, aber es konnte nicht schaden. Seit uns Theo Cordova verfolgte, machte ich mir keine Hoffnungen mehr, die Nachforschungen geheim zu halten. Warum also nicht das genaue Gegenteil versuchen, die Nachbarschaft offensiv mit Ashleys Foto bombardieren und dann mal sehen, wohin das führte?
Ich klebte die Flyer an Laternenpfähle und Telefonzellen, Briefkästen und Ständer für Learning-Annex-Kurskataloge. Eine chinesische Frau auf einem Fahrrad, an dessen Lenker orangefarbene Einkaufstüten baumelten, bremste ab, um zu sehen, was ich da tat. Sie sah mich finster an und fuhr weiter. Viele der Männer, die in den kleinen Gemischtwarenläden arbeiteten, erlaubten mir nicht, das Plakat bei ihnen aufzuhängen. Als sie sahen, was es war, schüttelten sie den Kopf und scheuchten mich aus dem Laden.
Als mir das zum
sechsten
Mal passierte, fragte ich mich, ob sie Angst hatten, dass eine vermisste weiße Frau ihnen Pech bringen würde – oder ob sie in Ashleys Foto etwas gesehen hatten, das ihnen nicht gefiel. Vielleicht gab es aber auch eine noch verstörendere Erklärung:
Ich sah aus, als würde ich für die Einwanderungsbehörde arbeiten
.
Im Hao Hair Salon in der Madison Street erlebte ich die gegenteilige Reaktion. Die jugendliche Rezeptionistin, die Geschäftsführerin, zwei Friseurinnen und eine Kundin (rosa Umhang, Alufolie im Haar) umringten mich lächelnd und redeten aufgeregt auf Chinesisch auf mich ein. Sie klebten Ashleys Foto gewissenhaft neben eine ausgeblichene Werbung für das Zupfen von Augenbrauen ins Schaufenster. Als ich wieder ging, winkten sie mir wie einem lieben Verwandten, den sie für die nächsten vierzig Jahre nicht sehen würden.
Und doch – je länger ich durch die Straßen lief, an Chinarestaurants, Geschenkartikelläden, Unisex-Friseuren und orangeweißen Kois vorbei, die durch das Schaufenster einer Tierhandlung schwebten, desto mehr hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Aber jedes Mal, wenn ich mich
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