Die amerikanische Nacht
umsah – einmal sprang ich sogar in einen Waschsalon und spähte hinaus –, fiel mir nichts Verdächtiges auf.
Ich fragte mich, ob dieses Gefühl durch die Kraft von Ashleys Blick verursacht wurde, der so lebendig und eindringlich vom weißen Papier starrte. Vermisstenplakate waren immer verstörend, weil die vermisste Person einen von einem Schnappschuss anlächelte, der auf einer Geburtstagsfeier oder während der Happy Hour in einer Bar gemacht worden war, noch völlig ahnungslos, welches Schicksal sie erwartete. Ashley dagegen, wie sie so allein an diesem Picknicktisch in Briarwood saß, wirkte so ernsthaft, sogar einsichtig, als wüsste sie, was sie wenige Wochen später erwartete.
Doch als ich weiterging, merkte ich, dass ich absolut recht hatte. Ich wurde
tatsächlich
beobachtet –
vom gesamten Viertel
. Hoppers Idee, die Flyer aufzuhängen, war also doch nicht so naiv, denn wenn
ich
schon auffiel und so viele feindselige Blicke aus langsam vorbeirollenden Autos auf mich zog – einmal sah ich, wie eine alte Frau oben in einem maroden Mietshaus ihre Spitzengardinen zur Seite schob und auf mich herabstarrte –, dann war auch Ashley wahrgenommen worden.
Sie mussten sie alle gesehen haben, sie beobachtet und sich über sie gewundert haben, als sie in ihrem roten Mantel durch die Straßen lief.
Jetzt brauchten wir nur noch jemanden, der sich traute, uns anzurufen.
60
»Tommy!«, grölte der Typ am Empfang mit ausgeprägtem New Yorker Akzent und drehte sich zu dem Dutzend Tätowierkünstlern um, die hinter ihm arbeiteten. »Diese Leute wollen dich was fragen!«
Rising Dragon
war ein hell erleuchtetes, weiträumiges Tätowierstudio im ersten Stock eines alten Mietshauses in der West 14 th Street. Es wirkte sehr fröhlich, ohne diese aggressive »Easy-Rider«-Atmosphäre anderer Studios in der Stadt, wo die Schlägertypen, die mit den Tätowierpistolen hantierten, aussahen, als sei das Stechen nur ein Nebenjob und sie hauptberuflich Auftragskiller.
Die Lampen waren klinisch sauber, die Wände mit Pauspapier und gerahmten Schablonen von Ganzkörpertattoos dekoriert, Totenköpfe, Buddhas und Krieger, maorische Tribal-Muster. Regale waren überladen mit Flaschen voll bunter Tinte und Jod. Aus den Lautsprechern dröhnte »Heart Shaped Box« von Nirvana.
»Frag sie, ob sie Cops sind!« Die antwortende Männerstimme durchschnitt das Wespengesumme der Tätowiermaschinen. Doch alle Tätowierer saßen über ihre Kunden gebeugt.
Ich hatte keine Ahnung, wer gerade gesprochen hatte.
»Seid ihr Cops?«, fragte der Typ, der schlimme Gedanke ließ ihn zusammenzucken.
Er hatte wasserstoffblondes Haar und das dauerhaft verdutzte Gesicht eines Surfers in Malibu, der sich einer unerwartet riesigen Welle gegenübersieht. Tätowierte Wölfe fletschten auf seinem Bizeps die Zähne.
»Nein«, sagte ich.
Der Kerl dachte kurz darüber nach und drehte sich dann erneut um.
»Sie sind
keine
Cops!«
»Sag ihnen, sie sollen rüberkommen!«
Der Typ nickte zur Musik und zeigte auf einen Alkoven in der hintersten Ecke des Raumes.
»Ihr könnt mit Tommy reden, dem Chef.«
Tommy schien der große Mann mittleren Alters zu sein, der schwarze Gummihandschuhe trug. Er saß vornübergebeugt und war in seine Arbeit vertieft, doch aus der Entfernung sah es aus, als würde er einen Pottwal obduzieren. Sein Kunde, der mit dem Gesicht nach unten auf einer schwarzen Massageliege lag, wog mindestens hundertvierzig Kilo. Er war kahlköpfig, nackt und weißer als ein ungetoastetes Toastbrot. Als ich durch den Laden auf die beiden zuging, dicht gefolgt von Nora, sah ich, dass das Tattoo, das er sich stechen ließ, ein gewaltiger Lotosbaum war, dessen knorriger Stamm ihm aus der Arschritze die Wirbelsäule hinauf wuchs und seinen gesamten Rücken ausfüllte. Einzelne Äste wanden sich bis nach vorne zur Brust, und zwei Vögel – die noch nicht ausgemalt waren – landeten auf seinen Unterarmen.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Tommy, ohne aufzublicken.
»Kennen Sie die?«, fragte ich und hielt ihm das Foto von Ashley hin. »Sie war vor ein paar Wochen in Ihrem Laden.«
Er reagierte nicht, bis er eine der rosa Lotosblüten fertig ausgemalt hatte.
Erwachsene Männer mit Kleinkindernamen – Bobby, Johnny, Freddy –, es schien ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, dass sie gefährlicher aussahen als wir anderen.
Er hatte eine breite Verbrechervisage und schwarzgraues Haar. Nicht erkennbare Tattoos lugten aus dem Halsausschnitt
Weitere Kostenlose Bücher