Die amerikanische Nacht
beginnen. Ich bitte um Ihre Geduld.‹ Die Minuten vergingen. Halb neun, zwanzig vor neun. Würde sie
überhaupt
kommen? Die Leute wurden sauer. ›Und das bei
den
Eintrittspreisen?‹ Ich habe mich natürlich umgesehen, ob ihr Vater auftauchte. Eine einsame Gestalt ganz hinten, Kampfanzug, graues Haar, dieser alles sehende Gesichtsausdruck und seine runde, dunkle Brille, die seine Augen in tote, schwarze
Münzen
verwandelt.«
Beckman drehte sich mit weit aufgerissenen Augen tatsächlich zur leeren Türöffnung, als hoffte er, dort Cordova zu sehen. Er drehte sich wieder zu mir und seufzte.
»Er ließ sich nicht blicken. Auf einmal kommt dieses Kind in schwarzer Strumpfhose und knallrotem Taftkleid durch den Künstlereingang auf die Bühne. Wir dachten, sie würde etwas verkünden. ›Das Konzert fällt aus.‹ Stattdessen geht sie direkt rüber zum Steinway und setzt sich, ohne sich nur im Geringsten für uns zu interessieren. Sie streicht mit den Händen über die Tasten, wie ein Meisterkoch, der sein Schneidebrett abwischt. Dann fängt sie an, ohne darauf zu warten, dass das Publikum zu reden aufhört. Es war
Jeux d’eau
von Ravel.«
Olga stand jetzt am Couchtisch und schenkte gekühlten Wodka aus einer schwarzen Flasche ein, die mit groben russischen Buchstaben bemalt war. Beckman und ich stießen an und tranken. So guten Wodka hatte ich noch nie probiert: Er war klar und leicht und tanzte einem die Kehle herunter.
»Die Noten wurden nicht gespielt«, fuhr er fort. »Sie wurden aus einer griechischen Urne gegossen. Die Empörung der Leute schlug in Betroffenheit und dann in verwirrte Verehrung um. Niemand konnte glauben, dass ein Kind so spielen konnte. Die dunklen Tiefen, in die sie hinabsteigen musste …
allein
.«
»Die Polizei geht von Selbstmord aus«, sagte ich.
Er guckte nachdenklich. »Möglich. Es war etwas an der Art, wie sie spielte … ein Wissen um die Dunkelheit in ihrer extremsten Form.« Er runzelte die Stirn. »Aber das ist nichts Ungewöhnliches, oder? Im Privatleben brillanter Männer findet man oft eine Verwüstung, die an die Explosion einer Atombombe erinnert. Zerstörte Ehen. Dem Tod überlassene Ehefrauen. Kinder, die wie deformierte Kriegsgefangene aufwachsen – sie alle laufen mit einem Loch in der Brust herum, wo ihr Herz sein sollte, und fragen sich, wo sie hingehören und auf welcher Seite sie stehen. Extremer Reichtum wie der, in den Cordova hineingeheiratet hat, vergrößert nur die Reichweite und das Ausmaß des
Fallouts
. Vielleicht war es auch bei Ash so.«
»Ash?«
»So haben sie sie in der Musikwelt genannt. Ash DeRouin. Die Asche der Ruinen. Sie war dreizehn. Aber sie spielte wie jemand, der sechs Leben gelebt hatte. Sechs Geburten. Sechs Tode. Und all die Trauer, die Liebe und die unerfüllte Sehnsucht, die dazugehört.« Er runzelte die Stirn, seine dichten Augenbrauen zuckten zusammen. »
So viel
Können und Gefühl hatte sie, und dazu war sie ganz ohne Zweifel das schönste lebende Kind, das ich je gesehen habe. Als wir die Konzerthalle verließen, wischte sich Véra die Tränen weg und sagte, sie könne nicht menschlich sein. Sie meinte das ohne Übertreibung.«
»Weißt du irgendwas über ihre Kindheit?«, fragte ich und schüttete noch mehr Wodka ein. »Wie sie so war? Du erinnerst dich doch an den anonymen Anruf.«
Er beäugte mich skeptisch. »Du meinst deinen mysteriösen Anrufer John.«
Ich nickte.
»Du weißt ja, dass ich nie an John geglaubt habe. Du bist einem Streich zum Opfer gefallen. Jemand hat dich auf den Arm genommen. Was hätte Cordova mit Kinderklamotten anfangen sollen?
Anderer
seits: Ein Mädchen, das inmitten von Gänseblümchen, Shetlandponys und liebevollen Eltern namens Joanie und Phil aufwächst, könnte nie auf diese Weise musizieren. Über der Familie hängt tatsächlich eine dunkle Wolke, so viel gebe ich zu. Aber was sie verdeckt und wie dicht sie ist – ob einfach nur Nebel, ein Hurrikan der Kategorie 5 oder ein schwarzes Loch, aus dem kein Lichtstrahl je wieder entkommen ist, das weiß ich nicht.«
»Hast du mal gehört, dass Ashley psychische Probleme hatte? Sie wurde Ende September Upstate in eine Klinik namens Briarwood eingewiesen.«
Er guckte verwundert. »Nein.«
»Sie ist mit einem nicht identifizierten Mann von dort abgehauen und zehn Tage später in dem Lagerhaus gestorben. Hast du irgendwelche Gerüchte auf den Blackboards mitbekommen?«
»Du lieber Himmel, McGrath, die
Blackboards
?« Er kippte
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