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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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Altern zu verhindern und unsterblich zu werden. Wer will denn ewig leben, wenn er eine
Maschine
ist? Kein Wunder, dass sich Cordova versteckt hält.« Unvermittelt verstummte er und saß in seinem Sessel, als hätte man ihm die Luft herausgelassen.
    Endlich war der Computerbildschirm dunkel.
Ich sah auf die Uhr. Es war nach sechs. Ich musste los.
    »Danke für den Wodka«, sagte ich. »Außerdem möchte ich mich in aller Form entschuldigen.«
    Beckman sagte nichts, er war von einem düsteren Gedanken abgelenkt, doch dann richtete er seine wachen Augen wieder auf die schwarze chinesische Kiste auf dem Tisch. Er prüfte den Deckel mit dem Zeigefinger, aber natürlich öffnete er sich nicht.
    »Bin überrascht, dass du nicht versucht hast, sie aufzubrechen, als ich weg war«, brummte er.
    »Ich bin nicht
völlig
frei von Skrupeln.«
    Er hob zweifelnd eine Augenbraue.
    Um ihn bei Laune zu halten, nahm ich die Kiste auf – sie hatte die Form eines Hexagons und war recht schwer. Ich schüttelte sie und erkannte sofort das berühmte trockene Pochen aus dem Inneren der Kiste. Ich wusste nicht, was darin war – niemand wusste das, bis auf die unbekannte Person, die es dort hineingetan hatte.
    Beckman hatte die verschlossene Kiste auf dem Schwarzmarkt für Memorabilien gekauft. Angeblich war sie eine Requisite, die am Set von Cordovas Film »Warte hier auf mich« gestohlen worden war. Im Film gehört sie dem Serienmörder Boyd Reinhart. Die Zuschauer erfahren nie, was darin eingeschlossen ist, doch der Film legt nahe, dass es ein Objekt ist, das ihn zum Töten verleitet hat, etwas, das ihn als Kind mental gebrochen hat. Dem Schwarzmarkthändler zufolge gab es jedoch ein Problem mit dem Herkunftsnachweis. Dadurch bestand die Möglichkeit, dass die Kiste nicht vom Filmset stammte, sondern dass sie aus den Beweisordnern des FBI zum Fall Hugh Thistleton gestohlen worden war, dem Mörder, der Boyd Reinhart nachahmte, von der Art zu töten bis zum extravaganten Kleidungsstil.
    Beckman liebte es, die Kiste zu zeigen und herumgehen zu lassen. »Das ist sie«, sagte er dann ehrfurchtsvoll. »Diese Kiste steht für die mysteriöse Schwelle zwischen Wirklichkeit und Illusion. Gehörte sie Reinhart? Oder Thistleton? Oder vielleicht
dir
? Denn jeder von uns hat eine Kiste, eine dunkle Kammer, in der er das verwahrt, was sein Herz durchbohrt hat. Sie enthält das, wofür wir alles tun würden, das,
nach dem wir trachten
, für das wir alles um uns herum verletzen würden. Und wenn wir sie öffnen könnten, würde uns das befreien?
Nein.
Denn das wirklich ausbruchsichere Gefängnis mit dem nicht zu öffnenden Schloss ist unser eigener Kopf.«
    Als ich das letzte Mal hier gewesen war, hatte ich, als Beckman in die Küche gegangen war, um noch eine Flasche Wodka zu holen, die brillante Idee gehabt – ich war ziemlich betrunken gewesen und angeheizt von einer seiner attraktiven Studentinnen –, das Schloss mit einem Taschenmesser aufzuhebeln, um ein für alle Mal zu klären, was drin war.
    Das fleckige Messingschloss hatte sich keinen Millimeter bewegen lassen.
    Beckman hatte mich auf frischer Tat ertappt. Er hatte mich rausgeworfen und geschrien, »
Verräter!
« und »
Banause!
«. Seine letzten Worte, bevor er mir die Tür vor der Nase zuschlug, waren: »Du weißt nicht einmal, wo man sie aufmacht.«
    Olga trug zwei Teller voller Sardinen herein – genug Futter für das gesamte Ottergehege in Sea World. Sie stellte sie auf dem ausgeblichenen Teppich ab, wo die Katzen daran schnüffelten.
    »Weißt du, was
dein
Problem ist, McGrath«, sagte Beckman und teilte den Rest Wodka auf unsere Gläser auf. »Du hast keine Achtung vor dem
Trüben
. Vor dem finsteren Unerklärten. Dem Nicht-festnagelbaren. Ihr Journalisten ebnet die Rätsel des Lebens einfach ein, ihr habt keine Ahnung, was ihr da so schonungslos ans Licht bringt, und dass ihr nach etwas sehr Mächtigem grabt, das …«. Er lehnte sich zurück und sah mir in die Augen. »… nicht gefunden werden
will
. Und das wird es auch nicht.«
    Er sprach von Cordova.
    »Außerdem«, fügte er leise hinzu, »ist der grausige Schatten eines Mannes nicht der Mann selbst.«
    Ich nickte und erhob mein Glas. »Auf das Trübe.«
    Wir stießen an und tranken. Ich stand auf, verneigte mich tief vor Beckman – er hatte eine Schwäche dafür, wie ein König behandelt zu werden – und ging an ihm vorbei. Er sagte nichts, war in seinem Sessel versunken und in der Lawine seiner Gedanken

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