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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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vergraben.
    Als ich zur Lobby hinunterfuhr, bedauerte ich die Entwicklung, die unsere Unterhaltung genommen hatte. Der Wodka hatte mich ein bisschen zu offenherzig gemacht. Beckman konnte jetzt sicher sein, dass ich Cordovas Spur wieder aufgenommen hatte. Ich hatte keine Ahnung, was er mit dieser Information anfangen würde.
    Ich sah mir das Foto an, das ich von seinem Bildschirm gemacht hatte. Ich konnte mein Glück kaum glauben. Das Bild war verschwommen, aber die verschachtelte URL konnte ich erkennen. Dies war die nützlichste Information, die ich in all den Jahren, die ich Beckman kannte, je von ihm bekommen hatte.
    Ich schloss das Foto und machte mir eine Notiz im Kalender.
    Peg Martin. Washington Square Park. Sonntags, 18 : 00  Uhr.

8
    Das Mädchen an der Garderobe des Four-Seasons-Restaurants aß händeweise bunte Jellybeans und las in einem dünnen gelben Taschenbuch.
    Ich hatte im Zeugenbericht aus Ashleys Polizeiakte gelesen, dass das Garderobenmädchen Nora Halliday hieß und neunzehn war.
    Jedes Mal, wenn eine Gruppe Gäste kam – Touristen aus dem Mittleren Westen, Finanztypen, ein Pärchen, das so alt war, dass ihre Bewegungen an eine Form von Tai Chi erinnerten –, nahm sie schnell ihre schwarz umrandete Brille ab, versteckte das Buch und nahm mit einem gutgelaunten »Guten Abend!« die Mäntel entgegen. Sobald sie nach oben ins Restaurant gegangen waren, setzte sie die Brille wieder auf, holte das Taschenbuch hervor und las über den Tresen gelehnt weiter.
    Ich beobachtete sie von einem Sessel am anderen Ende der Lobby aus. Ich hatte beschlossen, besser dort zu warten, weil ich ein bisschen besoffener war, als ich gedacht hatte – dank Beckmans Düsentreibstoff Wodka. Einmal schaute sie neugierig in meine Richtung. Sie nahm zweifellos an, dass ich auf jemanden wartete, lächelte und wandte sich wieder ihrem Buch zu.
    Dem Polizeibericht nach arbeitete sie erst seit wenigen Wochen hier. Sie war 1 , 70 Meter groß und dürr wie ein Fragezeichen, ihre hellblonden Haare trug sie hochgesteckt – ein paar Locken um ihr Gesicht herum eiferten Alfalfa aus »Die kleinen Strolche« nach. Sie trug einen braunen Rock und eine braune Bluse, die ihr zu groß war – die Dienstkleidung des Restaurants –, die Schulterpolster waren deutlich sichtbar und saßen ungleichmäßig.
    Schließlich stand ich auf und ging hinüber zu ihr. Sie klappte das Buch zu und legte es mit der Titelseite nach unten auf den Tresen, trotzdem gelang es mir, den Titel zu erkennen.
    Hedda Gabler
von Henrik Ibsen.
    Ein tragisches Stück mit der nach allgemeiner Ansicht neurotischsten weiblichen Protagonistin der gesamten westlichen Literatur.
    Ich hatte ein hartes Stück Arbeit vor mir.
    »Guten Abend, Sir«, sagte sie strahlend. Sie nahm ihre Brille ab, hinter der große blaue Augen und feine Gesichtszüge zum Vorschein kamen, die sie vor vierhundert Jahren zum It-Girl gemacht hätten. Aber da wir im Zeitalter des Schmollmunds und der Sprühbräune lebten, war sie zwar
hübsch
, ganz klar, aber altmodisch – eine Twiggy der Jahrhundertwende. Sie trug strengen roten Lippenstift, der nicht so aussah, als hätte man ihn bei guter Beleuchtung oder direkt vor einem Spiegel aufgetragen.
    Aber sie sah
freundlich
aus. Und so, als könne man
recht leicht
mit ihr ins Gespräch kommen.
    Sie nahm einen der silbernen Kleiderbügel vom Gestell und streckte die Hand nach meinem Mantel aus.
    »Ich will ihn nicht abgeben«, sagte ich. »Sie müssen Nora Halliday sein?«
    »Bin ich.«
    »Freut mich. Scott McGrath.« Ich holte eine Visitenkarte aus meiner Brieftasche und reichte sie ihr. »Ich hatte gehofft, dass wir uns unterhalten könnten, wenn es Ihnen passt.«
    »Worüber unterhalten?« Sie betrachtete die Karte.
    »Ashley Cordova. Soweit ich weiß, waren Sie die letzte Person, die sie lebend gesehen hat.«
    Sie sah mich an. »Sind Sie von der Polizei?«
    »Nein. Ich bin investigativer Journalist.«
    »Und was sind das so für
Investigationen

    »Verschleierungsfälle, internationale Drogenkartelle. Ich habe ein paar Hintergrundinformationen zu Ashley erhalten. Mich interessiert Ihre Perspektive. Hat Sie irgendwas zu Ihnen gesagt?«
    Sie biss sich auf die Unterlippe, legte meine Visitenkarte auf die Tür im Tresen und schüttelte vorsichtig ein paar bunte Jellybeans in ihre Hand. In der Tüte waren bestimmt vier Kilogramm davon. Sie schob sich den Haufen in den Mund und kaute mit fest aufeinandergepressten Lippen.
    »Alles, was Sie

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