Die amerikanische Nacht
Ägypten.
Satan
in den abendländischen Kulturen. Wenn man sich die Geschichte genau ansieht, ist es erstaunlich, wie allgemein anerkannt er ist.«
Marlowe legte nachdenklich den Kopf in den Nacken und sah mich an.
»Stanislas glaubte, es würde passieren, wenn sie vierundzwanzig, fünfundzwanzig sein würde – irgendeine Berechnung anhand von Vollmonden und solchen Dingen. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, aber irgendwann beteiligte sich die gesamte Familie an dem Plan, die Verheißung auf ein anderes Kind zu übertragen. Leider war das gar keine so abwegige Idee. Diese Sekten suchen sich oft Kinder als Opfer, die von zu Hause weggelaufen sind und die man nicht vermissen würde. Viele der Frauen werden schwanger, um das neugeborene Kind anschließend auf dem Altar zu opfern. Okkulte Verbrechen sind ein echtes Problem in diesem Land, nur werden sie von der Polizei unter den Teppich gekehrt, weil es nicht möglich ist, jemanden vor Gericht dafür zu verurteilen. Nicht, weil es keine Beweise gäbe. Oh nein. Diese Leute hinterlassen immer Spuren ihrer schrecklichen Rituale. Gar nicht so leicht, immer alles sauber zu halten, wenn man jede Woche Blut vergießt. Nein. Es liegt daran, dass die Geschworenen es nicht wirklich wahrhaben wollen. Das sind Dinge, die sie einfach nicht in ihren Kopf hineinbekommen. Es klingt wie etwas aus einem
Night Film
von Cordova. Nicht wie das echte Leben.«
Sie verstummte. Reflexartig schraubte sie sorgsam die Flasche auf, setzte sie an die Lippen und stellte endlich fassungslos fest, dass nichts mehr drin war, kein Tropfen.
»Woher wissen Sie das alles?«, fragte Nora leise.
Marlowe drehte sich müde um, anscheinend, um sie für die Frage zu tadeln. Aber dann blickte sie nur auf ihre Hände hinab, die schrumpelig auf ihren Knien ruhten. Sie betrachtete sie, als seien sie kein Teil von ihr, sondern seltsame Insekten, die ihre Beine hinaufgekrabbelt waren, und die wegzuwischen ihr die Kraft fehlte.
»Er vertraute mir. Erzählte mir alles. Er wusste, dass ich seinen Schmerz verstehen würde. Nach meinem Verlust war ich am Boden zerstört. Ich war nur noch eine Hülle. Wenn man jemanden verliert, den man so liebt, erholt man sich nicht mehr davon. Stanny wusste also, dass ich das Gefühl kannte. Ich hatte Zeit mit Ashley verbracht. Ich glaubte ganz bestimmt nichts von all dem, als er es mir erzählte. Aber dann nahm ich sie mit auf eine Reise, als sie ungefähr acht war. Wir saßen gerade am Strand in der Nähe von Côté Plongée in Antibes, als ich merke, dass sie mich
anstarrt
. Es war, als habe sie meine Vergangenheit und meine Zukunft gesehen – sogar, wohin meine Seele gehen würde, wenn ich starb, wie sie sich auf ewig in der Vorhölle windet. Es war, als würde sie das alles sehen und mich bemitleiden.«
Der
Verlust
, der sie als
Hülle
zurückließ, musste eine Anspielung auf Marlowes flotten Verlobten Knightley sein, der sie für ihre Schwester Olivia sitzengelassen hatte.
»Dieser Priester«, sagte ich nach einem Augenblick. »Erinnern Sie sich an seinen Namen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Er wurde einfach
Priester
genannt, ein bisschen sarkastisch. Ich erinnere mich noch vom Dreh zu ›Kind der Liebe‹ an ihn. Er angelte gerne. Ich sah ihn schon von weitem am Ufer stehen, ganz in Schwarz, wie ein Tintenfleck, der versehentlich in das helle Panorama von Himmel und blauem See und Bäumen sickert. Ich konnte nicht erkennen, was er da tat, bis ich nah genug war, um die lange Angel und den Angelkasten zu erkennen, und dass er so geduldig dastand, weil er auf einen Fisch wartete. Er sah aus, als könne er ewig warten. Genevra gab ihm den Spitznamen
Ragno
. Die Spinne.«
»Was?«
, fragte ich.
»Sch-pinne.« Sie zog das Wort in die Länge. »Wie er sich bewegte. So
lautlos
.«
»War sein wirklicher Name Hugo Villarde?«
»Ich … ich weiß es nicht.«
Marlowe drohte uns zu entgleiten, sie wurde immer schwächer und saß zusammengekrümmt auf dem Sessel, damit kein Licht sie traf. Als sie zu reden begonnen hatte, war ich wenig zuversichtlich gewesen, dass sie etwas Sinnvolles erzählen würde, ganz zu schweigen von der Wahrheit. Doch immer wieder hatte sie mich überrascht und Einzelheiten preisgegeben, die genau zu den Ergebnissen meiner Nachforschungen passten.
Und jetzt: diese Enthüllung zur Spinne.
»Haben Sie mal seine Assistentin kennengelernt, Inez Gallo?«, fragte ich sie.
»Ob ich sie kennengelernt habe?« Marlowe schüttelte sich vor Abneigung.
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