Die amerikanische Nacht
»
Coyote
? Natürlich. Egal, wo Cordova hinging, sein kleiner Coyote war direkt hinter ihm. Natürlich liebte sie ihn. Sie befolgte jede seiner Anweisungen, erledigte jede lästige Arbeit, egal wie grausam oder tückisch. Im Gegenzug wollte sie nichts weiter als seine Luft atmen. Wegen ihr kam Stanny auf den Titel ›Atmen mit den Königen‹, weil sie einfach so erbärmlich war. Ich glaube, sie wünschte sich, lebendig von ihm aufgegessen zu werden, damit sie endlich näher an ihm dran wäre als jeder andere. Dann hätte sie den Rest ihrer Tage in den dunkelsten Ecken seines Bauches verbringen können.«
»Wo ist er jetzt?«, fragte Nora nach einem Augenblick. »Cordova, meine ich.«
»Das ist die Millionenfrage. Niemand hat sie je richtig beantwortet.«
Sie wirkte unkonzentriert, als sie dies murmelte, und dann saß sie so lange mit dem Kinn auf der Brust da, ohne weiterzusprechen, dass ich mich fragte, ob sie eingeschlafen war.
»Ich nehme an, er ist immer noch da«, krächzte sie schließlich, ihre Stimme war kaum zu hören. »Oder er ist mit seinem Piratenschiff aufs Meer hinausgefahren und kommt nie wieder. Ich denke, nach Ashleys Tod hat mein Stanny, meine wilde Liebe, noch den letzten Rest seiner Menschlichkeit aufgegeben, davonfliegen lassen. Jetzt hält ihn nichts zurück. Jetzt nicht mehr.«
Plötzlich würgte Marlowe und beugte sich mit einem trockenen Hustenanfall vor.
»Mein Bett«, flüsterte sie. »Bringt mich ins Bett. Ich bin so … so müde.«
Nora sah zu mir herüber. Sie wollte mir damit sagen, dass ich Marlowe helfen sollte, doch ich zögerte. Ich hatte Angst davor, ihr zerstörtes Gesicht aus der Nähe zu sehen, und machte mir Sorgen, dass sie zu zerbrechlich sein könnte, um sie anzufassen. Sie hatte sich wieder zurückgezogen, war ganz weit weg, zusammengeklappt wie ein alter Klappstuhl, so verwittert, dass es denkbar schien, dass sie in meinen Händen in Stücke zerbrechen würde. Nora nahm ihr behutsam die Heaven Hill-Flasche ab – Marlowe ließ sie nur widerwillig los, wie ein Kind, das seine Puppe nicht hergeben will –, und dann beugte sie sich über sie und umarmte sie.
»Alles wird gut«, sagte Nora leise.
Ich trat neben sie und hob Marlowe hoch, so vorsichtig, wie ich konnte. Sie umklammerte fest meinen Hals und ich trug sie aus dem Zimmer in den Flur. Ihr Gesicht war von der Kapuze verdeckt. Als ich sie auf ihrem Bett ablegte und Nora und Hopper neben mir standen, vergrub sie sich sofort unter den Laken, wie ein Käfer, der sich im Sand versteckt.
»Lasst mich noch nicht allein«, flüsterte Marlowe heiser unter dem Laken. »Ihr müsst mir etwas vorlesen, damit ich einschlafen kann. Oh.
Süßer Tropfen
. Das war’s.«
»Ihnen etwas
vorlesen
?«, fragte Nora.
»Ich habe einen Jungen, der vorbeikommt. Er kommt jeden Abend um acht und liest mich in den Schlaf. Da liegt der
Graf
. Lies nur ein kleines bisschen …«
»Aus welchem Buch?«, fragte Nora leise.
»In der Schublade. Da, da.
Der Graf von Christo
. Er wartet auf mich.«
Nora warf mir einen verunsicherten Blick zu und packte den Griff der Nachttischschublade. Ich merkte, dass ich hoffte, Marlowe würde die Wahrheit sagen. Sie schien sich auf den
Drogendealer
zu beziehen, den Harold und Olivia erwähnt hatten. Es war eine erstaunliche Fehldeutung der Welt, wenn jemand, der für einen Dealer gehalten wurde, nur hierherkam, um einer alten Dame laut vorzulesen, Licht, das für Dunkelheit gehalten wurde, der Himmel, den man für die Hölle hielt.
Doch als Nora die Schublade aufzog, war darin nichts, kein Buch, nichts als zerknüllte Taschentücher und Fanbriefe.
Hopper und ich durchsuchten auch die anderen Schubladen, aber eine Ausgabe von
Der Graf von Monte Christo
fanden wir nicht – in ihrem Schlafzimmer waren überhaupt keine Bücher, nur Promi-Magazine und mit Gummibändern zusammengehaltene Stapel von Fanpost an
Miss Marlowe Hughes
. Hopper fragte, ob er ihr einen der Briefe vorlesen sollte, doch sie antwortete nicht.
Sie war endlich eingeschlafen.
88
»Ich kann es sogar nachvollziehen«, sagte ich und kippte den Rest Scotch hinunter, während ich neben dem Sofa im Wohnzimmer auf und ab ging. »Cordova hat sich in einem umzäunten Anwesen in der Wildnis eingesperrt. Er hat den Ort nie verlassen. Er war König eines dreihundert Acre-Reiches. Er umgab sich mit Leuten, die ihn verehrten, und diese Mitläufer, diese
Verbündeten
, erinnerten ihn bestimmt jeden Tag daran, dass er
Gott
war. Irgendwann
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