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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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Stück wurde, das irgendwann komplett abriss – und welche Art von Wand zum Vorschein brachte? Und wenn man diese Wand einriss, was lag dahinter?
    Der einzige Weg, mit diesen Unsicherheiten umzugehen, war, sie zur Seite zu schieben und sich auf einen konkreten Plan zu konzentrieren.
    Hopper hatte seine Schuhe zugebunden. Er stand auf und schloss den Reißverschluss seiner Jacke. Nora stand vor dem Spiegel und trug, aus unerfindlichen Gründen, roten Lippenstift auf, der in einen Pariser Jazzclub gepasst hätte. Sie presste die Lippen aneinander, bückte sich und zog das Bein ihres Kampfanzuges und der langen Thermounterhose hoch, um das Jagdmesser zurechtzurücken, das sie oberhalb ihres Fußgelenkes befestigt hatte. Ich hatte es ihr gestern in einem Wal-Mart in Saratoga gekauft.
    Ich wollte zumindest dafür sorgen, dass sie sich verteidigen konnte.
    »Okay, Soldaten. Gehen wir alles ein letztes Mal durch.«
    Ich öffnete meinen Rucksack und holte die Karte hervor.
    Unser sorgfältig ausgetüftelter
Plan
 – das war das Seil, an dem wir uns festhielten.
    Doch ich konnte den Gedanken nicht unterdrücken, ob wir nicht, wenn wir uns an diesem Seil in die Dunkelheit vortasteten, herausfinden würden, dass das Ende nirgendwo festgemacht war.
    *
    Wir nahmen einen Umweg, um nicht durch das Stadtzentrum von Crowthorpe Falls zu fahren.
    Der Weg war ein Gewirr sich windender, unbefahrener Seitenstraßen.
    Wir fuhren in einem Mietwagen, einem schwarzen Jeep, doch es war unmöglich zu wissen, wer in Crowthorpe an dem beteiligt war, was auf dem Gelände von The Peak vor sich ging, und ich wollte nicht riskieren, dass man auf uns aufmerksam wurde. Wir hatten die Perry Street kontrolliert, genau wie jedes Auto, das auf dem Weg nach Upstate hinter uns hergefahren war. Niemand schien uns gefolgt zu sein.
    Ich hatte in den fünf Jahren seit meinem letzten Besuch vergessen, wie undurchdringlich die Wildnis hier war, wie erstickend. Die Hänge wimmelten vor Nadelbäumen, Ahornen und Buchen, dicke Äste hingen über die Straßen, als wollten sie uns die Luft abschnüren. Sie saugten das wenige Licht auf, das es gab. Blockhütten, Lebensmittelgeschäfte und leerstehende Videotheken nahmen ein verfallendes Grundstück nach dem nächsten ein.
    »Die Nächste links«, sagte Nora.
    Nach wenigen Metern sah ich das Schild, das auf die Anlegestelle hinwies:
Weller’s Landing
.
    Ich bremste und bog links auf den Parkplatz ab. Zwei andere Autos standen bereits dort, ein blauer Pick-up und ein Kombi – wahrscheinlich ebenfalls Paddler, die schon auf dem See waren. Ich stellte das Auto in der hintersten Ecke ab, halbverdeckt von einer großen Hemlocktanne, und schaltete den Motor aus.
    »Die Luft ist rein«, sagte Hopper, der durch die Rückscheibe blickte.
    »Irgendwelche Bedenken in letzter Sekunde?«, fragte ich. Ich sah Hopper im Rückspiegel an. Sein starrer Blick sagte alles.
Jetzt konnte ihn nichts mehr aufhalten.
    »Bernstein?«, fragte ich.
    Nora zog sich gerade eine schwarze Strickmütze über den Kopf und steckte die losen Haarsträhnen darunter.
    »Oh, Mist. Das hätte ich fast vergessen.« Sie griff in die Tasche ihrer Weste und zog zwei kleine Plastikpäckchen heraus. Sie öffnete eines und holte eine dünne Goldkette hervor. Dann gab sie mir ein Zeichen, mich vorzubeugen, öffnete den Verschluss der Kette und legte sie mir um.
    »Das ist der heilige Benedikt.«
    Es war ein primitives Stück Schmuck, dessen Anhänger mit einem hageren, in eine Robe gekleideten Jesus-Verschnitt bedruckt war.
    »Er ist das Napalm unter den katholischen Heiligen«, sagte Nora und beugte sich zurück, um Hopper seine Kette umzulegen. »Wenn man Benedikt dabeihat, braucht man nichts anderes. Er wird uns vor dem beschützen, was da oben ist.«
    »Danke«, sagte Hopper.
    »Hast du auch eine?«, fragte ich sie.
    »Ja klar.«
    »Dann los jetzt.«
    Wir entluden zügig das Auto – um das Risiko kleinzuhalten, dass uns ein möglicher Zeuge dabei beobachtete. Aber auch, weil ich wusste, dass jede weitere Verzögerung den Zweifel eindringen lassen würde wie Wasser in ein löchriges Ruderboot.
    Hopper trug die Paddel zum Anleger. Ich machte das Souris River-Kanu vom Dach des Jeeps los. Nora schnappte sich die Schwimmwesten und die Rucksäcke. Ich versteckte den Autoschlüssel unter einem Stein bei der Hemlocktanne, für den Fall, dass wir getrennt wurden und einer von uns vor den anderen zurück war. Hopper und ich nahmen das Kanu, sahen ein letztes Mal auf

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