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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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schneebedeckten Gipfel irgendwo in den Wolken.
    Jedes Wort, das Nora in ihrem Singsang trällerte –
Können wir bei der Tankstelle anhalten? Ich nehme French Toast mit Ahornsirup
 –, klang dem Untergang geweiht und ließ mich bereuen, dass ich ihr erlaubt hatte, mitzukommen.
    Ich machte mir Sorgen, weil sich für mich, bei allem, was wir über Ashley und ihren Vater aufgedeckt hatten, noch immer kein Gesamtbild ergab. Cleo hatte mich gewarnt:
Die Wahrheit über das, was in dieser Welt passiert, ändert sich. Das hört nie auf.
    Möglicherweise war The Peak – und Cordova selbst – wie Beckmans verschlossene, sechseckige chinesische Holzkiste, die ich vor Jahren aufzubrechen versucht hatte: etwas, das für immer versiegelt bleiben sollte, dessen Inhalt aus gutem Grund versteckt worden war.
    Cleos Versicherung, dass es sich nicht um einen bösartigen Zauber handelte, war nur ein geringer Trost. Selbst wenn Ashley Sam damit schützen wollte, auch wenn Hopper Ashley geliebt hatte, blieb Ashley ein rätselhaftes Zeichen, dessen Bedeutung nicht eindeutig war. Ihre Schritte in der Nacht am Reservoir See im Central Park blieben undurchschaubar. Das Rätsel, wie die Figur in Sams Manteltasche gelangt war, und die Möglichkeit, dass Ashley mit ihr in Kontakt getreten sein könnte, ließ mich nachts zitternd aufwachen und erfüllte mich mit einer Angst, die umso stärker war, weil ich wusste, dass ich die Verantwortung dafür trug.
    Ich hatte sie der Gefahr ausgesetzt. Ich konnte mich nicht gegen den Gedanken wehren, dass mir all das meine wahre Natur gezeigt hatte, eine Einsicht, die so unendlich und unbestreitbar war wie zwei gegenüberliegende Spiegel, und dass ich schon immer dieser selbstsüchtige blinde Mann gewesen war und es immer bleiben würde. Meine unzähligen Anrufe bei Cynthia, um mich nach Sam zu erkundigen, wurden ignoriert.
    Und dann war da noch die Sache mit der Spinne und
The Broken Door
.
    Ich war zu dem Antiquitätengeschäft zurückgegangen, nachdem ich
Enchantments
verlassen hatte, an dem Tag, als Sam gestürzt war. Der Laden war abgeschlossen, die Fenster dunkel. Nora und Hopper gingen am nächsten Tag mit mir dorthin, zwei Tage später erneut und dann jeden Tag. Wir beobachteten das Gebäude vom Schatten einer gegenüberliegenden Eingangstreppe aus. Wir warteten, ob im ersten Stock ein Licht angeschaltet oder ein Vorhang vorsichtig zur Seite gezogen würde.
    Doch das Gebäude blieb unergründlich und still.
    Die Spinne war offensichtlich noch einmal zurückgekehrt, hatte einen Koffer gepackt und war in der Nacht verschwunden – vielleicht für immer. Es war nicht schwer, es sich vorzustellen; seine Vergangenheit hatte ihn schließlich eingeholt, erst durch Ashley, dann durch uns drei. Doch die rote, abblätternde Fassade von
The Broken Door
, sein rätselhaftes Verschwinden und, was mir am meisten Angst machte, das Rätsel, was genau mit Sam in dem Laden geschehen war, hinterließen Fragen, die mir zusetzten, die mich fertigmachten, wie ein Fieber, das nicht mehr nachließ.
    Ich war mir nicht einmal sicher, dass ich noch klar denken konnte. Mit Sam war eine Grenze überschritten worden. Indem er sich geschickt außer Sichtweite hielt und uns nur seinen verdrehten Schatten an der Wand sehen ließ, existierte Cordova noch immer hauptsächlich in meinem Kopf – dem gefährlichsten Versteck, in dem sich ein Feind einnisten konnte. Davon handelten schon seine Filme.
Die vermutete, aber unsichtbare Bedrohung
, die von der Vorstellungskraft geschürt wurde, war zermürbend und allmächtig. Sie konnte einen vernichten, bevor man sein Zimmer oder sein Bett verlassen hatte, bevor man die Augen geöffnet und Luft geholt hatte.
    Diese Leviathan-Figur mit dem zitternden Schatten, der über den Tisch rutschte, als führe er ein Eigenleben, war der Beweis, dass es eine versteckte Welt jenseits derer gab, die ich mein Leben lang als gegeben angenommen hatte, der Realität, die der Wissenschaft und der Logik zufolge immer gleich war und die sich nur im Rahmen fest umschriebener Gesetzmäßigkeiten änderte. Dieser Schatten, der machte, was er wollte, war der Beginn des Unbekannten. In der Gewissheit und Wahrheit der Welt war ein Bruch erkennbar geworden. Es war ein winziger Riss in der Tapete, den ich ignorieren, den ich darauf schieben konnte, dass mein Verstand mir einen Streich gespielt hatte. Oder er konnte abgerissen werden, weiter und immer weiter, bis er zu einem immer größeren und bizarreren

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