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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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der Außenkante hatte es einen Zierstreifen aus Aluminium. Ich war kein Elektriker, aber es schien mir möglich, dass er Strom leiten könnte, wenn er das Kabel berührte.
    »Hopper«, sagte ich. »Du zuerst.«
    Er schob seinen Rucksack in die Mitte des Kanus und legte sich mit verschränkten Armen flach in den Rumpf.
    Nach dem Ablegen dauerte es einen Augenblick, bis Nora und ich den Bug des Kanus auf die zerfetzte Öffnung ausgerichtet hatten. Wahrscheinlich lag es bloß daran, dass sich meine Augen erst an das abnehmende Licht gewöhnten mussten, doch als wir voranglitten, hätte ich schwören können, dass der Draht des Zaunes sich zusammenzog, sich wand wie eine Pflanze, die auf Bewegungen reagierte.
    Als wir noch sechzig Zentimeter entfernt waren, gerieten wir plötzlich in eine starke Strömung und wurden zur Seite geworfen. Wir krachten seitlich gegen die Öffnung, wodurch das Kabel ein Stück nach unten rutschte.
    »Gleich berühren wir es«, flüsterte Nora.
    »Hände weg vom Metall«, wies ich sie an.
    Sie hob ihr Paddel hoch, während ich meines eintauchte und den Bug durch die Öffnung zwang. Die durchtrennten Drähte kratzten am Boot entlang. Wir fuhren noch ein paar Zentimeter weiter, als mir auffiel, dass das Kabel sich noch weiter senkte – als wäre das Ganze eine Falle. Bevor ich reagieren konnte, schlug es gegen den Rand des Kanus. Ich wartete auf die weiße Explosion des Stromschlags.
    Nichts.
    Ich stach das Paddel ins Wasser und hielt das Kanu gegen die Unterströmung auf Kurs. Ich schob uns dreißig Zentimeter nach vorne. Jetzt war Hopper auf der anderen Seite und das Kabel hing vor Nora, die Drahtenden kratzten gegen das Boot.
    »Du bist durch«, sagte ich.
    Hopper setzte sich auf. Nora reichte ihm das Paddel und rollte sich dann in Embryonalstellung im Rumpf zusammen.
    »Für den Fall, dass meine Zeit abgelaufen ist und ich einen Schlag abkriege, möchte ich noch sagen, dass ich euch beide liebe und dass das die beste Zeit meines Lebens war.«
    »Deine Zeit ist
noch nicht ganz
abgelaufen, Bernstein«, sagte ich.
    Wir stießen uns ab. Es war nichts zu hören außer dem Wasser und Knirschen der sich durchbiegenden Drähte, die sich gegen das Boot wehrten. Plötzlich stießen wir gegen etwas, das unter der Wasseroberfläche lag, und das Kabel senkte sich und berührte die Seiten. Ich hätte schwören können, das schwache Knistern elektrischer Aufladung um uns herum zu hören. Doch im selben Augenblick hob sich das Kabel, wir glitten ein Stück weiter und ich war an der Reihe.
    Ich legte mich flach in den Rumpf, das Wasser gluckerte neben mir.
    »Willst du uns noch was sagen?«, fragte Hopper.
    »Versucht, mich nicht umzubringen.«
    Das Kanu schlingerte voran und das dünne Kabel schlug nur Zentimeter von meiner Nase entfernt gegen die Seitenwände. Dann rutschte es über meinen Kopf und war nicht mehr zu sehen.
    »Wir sind drin«, flüsterte Hopper.
    Ich setzte mich auf und drehte mich um. Erstaunlicherweise waren wir schon ein gutes Stück von dem Zaun entfernt. Die Strömung war hier stärker, das Wasser sammelte sich, als freute es sich, uns zu transportieren – aber wohin?
Dieser Zaun war eigentlich gar kein Zaun. Das war eine Sprengfalle.
Vielleicht hatte Marlowe diesen geheimen Eingang auf diese Weise erwähnt, um den Gedanken daran in unsere Köpfe zu pflanzen und damit wir es auf genau diesem Weg versuchen würden.
Aber wieso?
Damit uns das Kabel vernichtete? Oder sollten wir sicher auf Cordovas Grundstück gelangen, um hier in der Falle zu sitzen?
    *
    Während wir weiterpaddelten, zog um uns herum die Nacht auf wie eine schwarze Flut.
    Zuvor hatte eine beunruhigende Stille über dem Wald gelegen. Jetzt schallten von überall her Geräusche. Äste brachen. Blätter raschelten. Bäume erzitterten – als würden alle Wildtiere, die sich am Tag versteckten, jetzt munter aus ihren Löchern kommen.
    Meine Augen gaben auf, irgendetwas jenseits von Hoppers Silhouette im Bug des Kanus und Noras hochgezogenen Schultern vor mir erkennen zu wollen. Ich erinnerte mich mit einem Anflug von Sorge an das Gefühl des Erstickens beim Besuch in The Peak, das Olivia Endicott beschrieben hatte. Ich fragte mich, ob ich das Gleiche erlebte, ein vages Gefühl der Orientierungslosigkeit, der Distanziertheit, des
Ertrinkens
. Ich nahm an, dass es bloß am Adrenalin und der Nervosität lag, doch dann bemerkte ich ganz deutlich eine ausgeprägte Schwere, als wäre die feuchte Luft, die wir den ganzen Tag

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