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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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trauerte, vor allem, wenn sie aus einer berühmten Familie stammte. In diese leere Form konnten die Leute den Kummer und das Leid ihres eigenen Lebens gießen und es so loswerden. Dann fühlten sie sich ein paar Tage lang glücklich und leicht, bevor sie ihre Last wieder auf die Schultern schnallten und sich weiterschleppten.
    Behutsam schob ich ein paar der Blumen zur Seite, um zur Eingangstür zu gelangen. Sie war aus Stahl und mit zwei Vorhängeschlössern gesichert. An der Tür waren Schilder angebracht, ACHTUNG und GEFAHR . Polizeiabsperrband klebte unversehrt auf der ganzen Breite des Türrahmens. Das bedeutete, dass die Polizei den Fundort noch nicht freigegeben hatte.
    Eine kastanienbraune Limousine fuhr mit lärmendem Auspuff vorbei, die dunkle Silhouette des Fahrers tief hinterm Steuer versunken. Ich trat einen Schritt zurück und versteckte mich im Schatten des Gerüsts, bis der Wagen am Ende der Mott Street ankam und links abbog. Jetzt war die Straße wieder still.
    Und doch hatte ich das untrügliche Gefühl, dass da noch jemand war – oder gerade da gewesen war.
    Ich machte den Reißverschluss meiner Jacke zu. Nachdem ich den Gehsteig überblickt hatte – er war bis auf einen asiatischen Jugendlichen, der in einen Laden mit dem Namen Chinatown Fair stürzte, menschenleer –, ging ich die Mott Street bis zum Ende durch, wo sie auf die Worth Street traf. Ich bog scharf rechts ab und lief an einem roten Vordach mit der Aufschrift KOSMETISCHE ZAHNBEHANDLUNG vorbei, das sich auf einem verlassenen, im Dunkeln liegenden und von einem ausgebeulten Maschendrahtzaun umzäunten Grundstück befand. Als ich am nächsten Gebäude vorbeiging, einem schäbigen Mietshaus, und zum nächsten kam, 197  Worth, merkte ich, dass ich zu weit gegangen war.
    Ich ging am Zaun entlang wieder zurück, als mir plötzlich ein ausgefranstes Loch auffiel, das knapp über dem Boden in den Draht geschnitten war. Ich ging in die Hocke und sah, dass darüber ein winziger schwarzer Lappen festgeknotet war – eindeutig als Markierung für den Eingang. Dahinter führte ein Trampelpfad zum hinteren Teil des Grundstücks, wo ein altes Gebäude zu stehen schien.
    Das musste es sein. Die
Hängenden Gärten
hatte Falcone es genannt –
ein bekannter Aufenthaltsort für Hausbesetzer und Crack-Süchtige
, so stand es in der »Zusammenfassung des Vorfalls« in Ashleys Akte.
    Die Polizei hatte geschlussfolgert, dass Ashley von
hier
aus, dem Haus in der 203  Worth Street, in das Gebäude 9  Mott gelangt war, dass sie eine Treppe bis zum Dach hinaufgelaufen war und das angrenzende Gebäude in der Mott Street durch das Dachfenster betreten hatte. Die Polizei hatte in der Gegend weder Zeugen noch persönliche Gegenstände gefunden, doch das hatte nichts zu bedeuten. Die Beamten waren oft faul, wenn sie im Rahmen ihrer Ermittlungen schon früh zu dem Schluss kamen, dass es Selbstmord war – dann übersahen sie oft wesentliche Details, die eine ganz andere Geschichte erzählten. Und genau deshalb war
ich
hier.
    Ich duckte mich durch die Öffnung und lief den Pfad entlang. Der ranzige Geruch war überwältigend. Ich hörte, wie etwas davonhuschte. Es war wahrscheinlich bloß das Maskottchen von New York:
die Ratte von der Größe einer Katze.
Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich die zerbröckelnde Außenwand des Gebäudes vor mir erkennen. Links von mir war eine Tür. Ich trat darauf zu, stolperte über ein altes Fahrrad und ein paar Plastikflaschen und öffnete die Tür einen Spalt breit.
    Es war eine große, stillgelegte Lagerhalle, dunkel, obwohl das schummrige Licht der Straße, das irgendwo durchsickerte, die hintere Wand beleuchtete und Graffiti sichtbar machte. Der Raum war voller Schrott, überall lagen Stapel von Rigips und Dämmmaterial, Turnschuhe, Sweatshirts, Zeitungen und Dosen. Hier hatten eindeutig Hausbesetzer gelebt – doch anscheinend hatten sie das Gebäude aufgegeben. Ich trat ein und ließ die schwere Tür kreischend hinter mir zufallen.
    Jetzt, da die Wirkung von Beckmans Wodka nachließ, wurde mir klar, wie unklug es war, herzukommen, ohne auch nur das obligatorische Taschenmesser dabeizuhaben, das ich beim Joggen im Central Park trug. Ich hatte auch nicht an eine Taschenlampe gedacht.
    Ich bewegte mich in Richtung der hinteren Treppen – eine kleine Crackpfeife zerbrach unter meinem Schuh – und stieg hinauf.
    Das metallische Echo meiner Schritte war irritierend. Bei jeder Stufe

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