Die amerikanische Nacht
schien das alte Gebäude zusammenzuzucken und dagegen zu protestieren, dass ich seine rostige Wirbelsäule hinaufkletterte.
Hier war Ashley hinaufgestiegen.
Wenn sie Selbstmord begehen wollte – ein Schluss, von dem ich nicht völlig überzeugt war, egal was Falcone sagte –,
warum war sie dann hierhergekommen
?
Ich erreichte das sechste Stockwerk. Dann ging ich die letzte und steilste Treppe hinauf und versuchte in einem beengten Dachgeschoss, in dem ein fleckiger Futon und noch mehr Müll auf dem Boden lagen, wieder zu Atem zu kommen. Die Decke fiel schräg ab, und an der Stelle, wo sie auf die Wand traf, war eine kleine Metallleiter angebracht, die zu einer quadratischen Luke führte. Ich kletterte hinauf und drückte mit der Schulter dagegen. Die Tür gab ächzend nach, und ich schob mich durch.
Das Dach war leer. In einer Ecke stand ein zerfetztes Sofa. Den Ausblick bestimmte das borstige Beet der Wolkenkratzer von Lower Manhattan: Stümpfe von Sozialbauten, fette Gebäudebrocken der Stadtverwaltung, Wassertürme, die wie Distelknospen austrieben – sie alle kämpften um einen Teil des nächtlichen Himmels. Die meisten Mietskasernen waren mit Graffiti übersät, die wirren Buchstaben nicht zu entziffern.
Die Rückseite der 9 Mott Street grenzte an das Gebäude an, auf dem ich stand. Zwischen den Häusern war ein gut dreißig Zentimeter breiter Zwischenraum, in dem es bis zur Straße hinunterging. Ich trat auf die niedrige Mauer, die den Rand des Dachs umgrenzte, und nachdem ich den Fehler gemacht hatte, nach
unten
zu sehen, sprang ich über den Spalt auf das benachbarte Dach.
Sofort entdeckte ich das Dachfenster. Es war eine große Pyramide, der das meiste Glas fehlte. Ich ging darauf zu, bückte mich und blickte durch eines der zerbrochenen Fensterelemente.
Ungefähr drei Meter unter mir war ein dunkler Boden. Links von mir konnte ich direkt in den leeren Schacht eines Lastenaufzugs sehen, der sich über alle sieben Geschosse erstreckte. Unten war der Beton hell erleuchtet. Es war, als würde man in eine Kehle starren, den Verbindungsgang zwischen zwei Dimensionen. Es ging gut dreißig Meter nach unten. Sogar aus dieser Höhe konnte ich unten am Boden rostfarbene Flecken erkennen.
Ashleys Blut.
Man ging davon aus, dass sie durch dieses Dachfenster geklettert war, ihre Schuhe und Socken ausgezogen hatte und zur Kante des Aufzugschachts getreten war. Es muss so schnell gegangen sein, Wind in den Ohren, das dunkle Haar protestierend in ihrem Gesicht – und dann nichts.
Falcone hatte absolut recht; die glaslosen Rahmen der Dachpyramide waren so eng, dass es schwierig gewesen wäre, sie gegen ihren Willen dort durchzuzwängen.
Schwierig
, aber nicht
unmöglich
.
Ich drehte mich um und untersuchte den Boden. Da lag nichts Abgebrochenes, kein Zigarettenstummel und kein Abfall. Zwischen den Glasscherben um das Dachfenster waren keine Stoffreste oder Fasern zu erkennen. Ich wollte gerade wieder aufstehen, als ich plötzlich ganz unten am Boden des Schachts etwas bemerkte.
Ein Schatten war schnell über den Boden gefegt.
Ich wartete und fragte mich, ob ich es mir eingebildet hatte – das erleuchtete Rechteck dort unten lag wieder leer und still da. Doch dann schob sich ein dunkler Schatten langsam ins Blickfeld.
Es war ein
Kopf
. Ein Mann musste im Eingang des Aufzugs stehen. Er blieb eine Minute lang dort, ohne sich zu bewegen, dann trat er in den Aufzug.
Er hatte dunkelblondes Haar und trug einen grauen Mantel.
Das muss ein Polizist sein, der sich den Fundort noch einmal ansehen will.
Er duckte sich, anscheinend um die Blutspuren auf dem Boden zu inspizieren. Er ging noch weiter hinein und hockte sich in die Ecke. Dann setzte er sich, zu meiner Überraschung, tatsächlich auf den Boden, die Ellbogen auf die Knie gestützt.
Eine Weile lang rührte er sich nicht.
Ich wechselte die Position, um einen besseren Blick zu haben, doch dabei löste sich eine der Glasplatten, fiel hinab und krachte auf den Absatz darunter.
Erschrocken blickte er nach oben. Dann kletterte er flink außer Sichtweite.
Das war kein Polizist.
Ich kannte keinen Polizisten – mit Ausnahme von Sharon Falcone –, der sich
so
schnell bewegte.
Ich rappelte mich auf und sprintete über das Dach.
10
Ich rannte nach draußen und um die Ecke zur 9 Mott Street. Ich rechnete fest damit, dass der Eingang nicht mehr versiegelt sein würde.
Doch das Polizeiband war intakt, die Vorhängeschlösser an ihrem Platz.
Wie war er
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