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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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sagen, kann vertraulich behandelt werden«, fügte ich hinzu.
    Sie hielt sich die Hand vor den Mund.
    »Haben Sie getrunken?«, fragte sie.
    »Nein.«
    Das schien sie anders zu sehen. Sie schluckte hörbar. »Dürfen wir Sie heute zum Essen begrüßen, Sir?«
    »Nein.«
    »Sind Sie mit jemandem an der Bar verabredet?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Dann muss ich Sie bitten, zu gehen.«
    Ich starrte sie an. Sie kam
eindeutig
nicht aus New York. Sie war ein klassischer Fall von
Habe gerade den Abschluss in Darstellender Kunst an der Ohio State gemacht.
Etwas sagte mir, dass sie da wahrscheinlich eine Pink Lady in irgendeiner unterirdischen Inszenierung von
Grease
gespielt hatte, und wenn jemand sie fragte, was sie mache, sagte sie
Ich bin Schauspielerin
, in derselben belegten Stimme, in der ich Teilnehmer an AA -Treffen
Ich bin Alkoholiker
hatte sagen hören. Mädchen wie sie kamen containerweise hier an, in der Hoffnung, entdeckt zu werden oder ihren »Mr Big« zu treffen. Aber allzu oft landeten sie in Bars in Murray Hill, in schwarzen Kleidern von Banana Republic und mit Pflastern über den Blasen an ihren Hacken. Denen wird ihr
Ich erobere Manhattan
früh genug ausgetrieben. Längere Zeit in dieser Stadt zu leben setzte Masochismus voraus, moralische Flexibilität, ein dickes Fell und die Widerstandsfähigkeit eines Stehaufmännchens – Dinge, die diese Frühzwanzigerinnen mit ihrer falschen Selbstsicherheit nicht mal ansatzweise verstanden. In spätestens fünf Jahren würde sie nach Hause zurückkehren, zu ihren Eltern, einem Freund namens Wayne und einem Job an ihrer alten Highschool, als Lehrerin für »Bewegung«.
    »Wenn Sie nicht gehen, muss ich unseren Manager rufen. Carl wird alle Beschwerden und Wünsche gerne entgegennehmen.«
    Ich atmete tief durch. »Miss
Halliday
«, sagte ich und ging einen kleinen Schritt auf sie zu, so dass ich sehen konnte, dass ihr der knallrote Lippenstift an der Oberlippe abgerutscht war. »Eine junge Frau ist tot aufgefunden worden.
Sie
waren die letzte Person, die sie lebend gesehen hat. Die Familie Cordova weiß das.
Viele
Leute wissen das. Die Polizei von New York hat Ihren Namen nicht anonym gehalten. Die Leute fragen sich, was Sie getan oder zu ihr gesagt haben, dass sie Stunden später tot ist. Ich will keine voreiligen Schlüsse ziehen. Ich will nur Ihre Version der Geschichte hören.«
    Sie starrte mich an. Dann nahm sie das Telefon von der Wand hinter ihr und wählte eine dreistellige Nummer.
    »Hier ist Nora. Kannst du mal runterkommen? Hier ist ein Mann, der …« Sie starrte mich unverhohlen an. »Mitte Fünfzig.«
    Das war
nicht
die Reaktion, auf die ich gehofft hatte. Ich verließ eilig die Lobby. Draußen unter dem Vordach drehte ich mich um. Fräulein Streep hatte die Brille wieder aufgesetzt. Sie stand über die Tür zu ihrem Stand gebeugt und beobachtete mich.
    Ein Mann im blauen Anzug lief hastig die Treppe herunter –
Carl eilt zur Hilfe
, nahm ich an –, also drehte ich um und ging zurück zur Park Avenue.
    Das war nicht gut gelaufen. Ich war eingerostet.
    Ich sah auf die Uhr. Es war nach acht, kalt, die weißen Wolken am Abendhimmel lösten sich auf wie Atem auf einer Glasscheibe.
    Ich war vielleicht nicht ganz in Form, aber nach Hause gehen wollte ich nicht.
    Noch
nicht.

9
    Eine Viertelstunde später saß ich in einem Taxi und fuhr durch Chinatown, vorbei an heruntergekommenen Mietskasernen und Restaurants, dreckigen Schildern, die chinesische Massagesalons und Apotheken bewarben, Markisen, die mit einem Mischmasch aus Englisch und Chinesisch bedruckt waren. Gruppen von Männern in dunklen Jacken hasteten an Läden vorbei. Die Gegend florierte, auch wenn sie jetzt leer wirkte, als hätte man sie gerade unter Quarantäne gestellt.
    Wir kamen an einer Backsteinkirche vorbei –
Wandlungskirche
stand auf dem Schild.
    »Wir sind da«, sagte ich zum Fahrer.
    Ich bezahlte, stieg aus und sah an dem Gebäude hoch –
dem Lagerhaus, in dem Ashley Cordova tot aufgefunden worden war.
Es war eine siebengeschossige, baufällige Bruchbude, mit abblätternder Farbe, einem Baugerüst und vernagelten Fenstern. Vor dem Eingang stapelten sich Blumen und Nachrichten.
    Ich ging einen Schritt darauf zu. Da waren Rosen- und Nelkensträuße, Kerzen und Bilder der Jungfrau Maria, selbstgemachte Schilder.
Ruhe in Frieden, Ashley.
Gott sei mit dir.
DEINE MUSIK WIRD IMMER LEBEN .
Es überraschte mich immer, mit welcher Intensität die Öffentlichkeit um eine schöne Fremde

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