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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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bewegte, merkte ich zu meiner Überraschung, dass die winzige weiße Motte sich aus meiner Manteltasche befreit hatte. Jetzt krabbelte sie meinen Arm hinab, über den Bund des Mantelarmes und dann über die Uhr.
    Es war immer noch 19 : 58  Uhr.
    Ich erreichte die Wand des Turmes und begann mit dem Abstieg. Die Metallsprossen rutschten mir bereitwillig in die Hände und unter die Schuhe. Aber dann stellte ich entsetzt fest, dass der Boden mit dem zerborstenen Holz nicht näher kam, egal, wie lange ich kletterte. Ich würde niemals unten ankommen, niemals festen Boden unter den Füßen spüren, niemals aufwachen.
    Plötzlich befand ich mich nicht mehr auf einer Metallleiter.
    Ich stolperte panisch einen schwarzen Gang entlang. Er sah genauso aus wie der, der zur Kreuzung führte.
War ich hier seit Tagen unterwegs und hatte mich, als ich kein Ende erreichte, einfach hingelegt und war eingeschlafen?
    Oder lag ich immer noch ohnmächtig auf dem Sofa in »Daumenschraube«?
    Unvermittelt erreichte ich eine Wand mit einer Leiter und sah in der Decke eine weitere Luke aus Holz. Ich kletterte hinauf, schob die Metallbügel zur Seite und öffnete die Luke.
    Ich war in einer stillgelegten Fabrikhalle, umgeben von riesigen Maschinen mit rostigen Sägeblättern, haufenweise entrindeten Stämmen und Trümmern. Ich kletterte aus der Luke und rannte durch die Hobelspäne und das Sägemehl auf eine kleine Tür zu …
    Was zur Hölle passierte hier? Ich war draußen und raste über eine Wiese, die mir bis zum Bauch reichte, über alte Eisenbahnschienen. Ich sprintete an einem verfallenen Güterwaggon vorbei, auf den jemand einen weiteren roten Vogel gesprüht hatte, als ich erschrocken feststellte, dass ich die ganze Zeit mit geschlossenen Augen gerannt war.
    Ich öffnete sie.
    *
    Sonnenlicht stieß auf mich nieder.
    »Ich glaube, der ist tot.«
    »
Alter.
Können Sie mich hören?«
    Etwas Spitzes bohrte sich in meine Schulter.
    »Oh Gott. Fass ihn nicht an. Der ist voller Maden.«
    »Das ist keine Made. Das ist eine Motte.«
    Ich öffnete den Mund, um zu sprechen, aber ich konnte nicht. Meine Kehle fühlte sich an, als sei sie verbrannt. Ganz langsam nahmen meine Augen ihre Funktion wieder auf. Ich lag auf der Seite in einem schlammigen Graben. Zwei Teenager, ein Junge und ein Mädchen, starrten auf mich herab. Der Junge schien mich mit einem langen Stock angestupst zu haben. Hinter ihnen parkte ein blauer Kombi am Straßenrand.
    »Wollen Sie, dass wir einen Krankenwagen rufen?«, fragte das Mädchen.
    Ich rollte in eine aufrechte Position, mein Kopf pochte. Ich sah an mir hinab und versuchte, die Lage zu erfassen. Ich trug einen schweren Mantel, eine Cordhose, Wanderstiefel und karierte Socken. All das war mit schwarzem Schlamm verkrustet. Meine dreckverschmierte rechte Hand hielt etwas umklammert. Meine Finger fühlten sich tot an, als seien die Knochen gebrochen und das Fleisch angeschwollen. Sie weigerten sich, ihren Griff um das zu lockern, was sie so eisern festhielten. Es war, wie ich feststellte, ein Messingkompass mit einem kaputten Schutzglas.
    Und ich lebte.

94
    »Du warst drei Tage lang weg«, sagte Nora.
    Ich konnte sie nur anstarren, ich war nicht in der Lage zu sprechen.
    Ich war drei Tage lang in The Peak verschollen gewesen. Wie war das möglich?
    Und die Tatsache, dass wir alle drei hier zusammensaßen, lebendig, unverletzt, in einer abgelegenen Sitznische in einem Restaurant auf dem Land, das Dixie’s Diner hieß, war ebenfalls bizarr. Die letzten vier Stunden waren wie unter einem Schleier verflogen und ich fragte mich, ob mein Gehirn das, was in der Welt geschah, erst mit einer Minute Verzögerung verarbeitete.
    Nachdem ich mich in diesem Graben aufgerappelt hatte, hatte ich die beiden Teenager überzeugt, nicht die Polizei zu rufen, sondern mich zum Evening Shade Motel in Childwold zu bringen. Sie wirkten ganz begeistert von der Idee, wahrscheinlich, weil sie vermuteten, dass ich eine ganz aktuelle Geschichte in den Lokalnachrichten werden könnte, und sie selbst die wichtigsten Zeugen. Während wir fuhren, informierten sie mich gutgelaunt, dass sie an einer Säuberungsaktion für die Highschool teilnahmen und Müll am Straßenrand aufsammelten. Dabei hatten sie mich gefunden.
    »Wir dachten, Sie sind tot«, sagte der Junge.
    »Welcher Tag ist heute?«, gelang es mir zu fragen.
    »Samstag«, antwortete das Mädchen und warf dem Jungen einen erschrockenen Blick zu.
    Samstag? Wir waren am Mittwochabend in The

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