Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
Vom Netzwerk:
und runzelte die Stirn.
    »Ich hatte dir doch gesagt, dass du am Teich auf mich warten sollst«, sagte ich zu ihr.
    »Das wollte ich auch. Aber als ich den Hügel hinunterkam, habe ich mich verlaufen und kam zu weit nördlich raus. Als ich wieder zurückging, ging ich auf das Kanu zu, und da packte jemand von hinten meine Schulter. Ich schrie und sprühte ihm das Pfefferspray ins Gesicht, und dann bin ich einfach losgerannt.«
    »Hast du sein Gesicht gesehen?«
Dieser Schrei, den ich gehört hatte, das war Nora gewesen.
    Sie schüttelte den Kopf. »Er hatte eine Taschenlampe. Damit hat er mich geblendet. Ich rannte und rannte, bis ich merkte, dass niemand hinter mir her war. Nach einer Stunde kam ich zu einer unbefestigten Straße, die durch den Wald führte. Die bin ich entlanggegangen, weil ich hoffte, so vom Anwesen wegzukommen und Hilfe holen zu können.«
    Sie verstummte schlagartig und warf Hopper wieder einen ängstlichen Blick zu.
    »Und hat sie dich vom Grundstück heruntergeführt?«, fragte ich.
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Wohin hat sie dich geführt?«, bohrte ich nach, als sie nicht antwortete.
    »Zu so einem betonierten Platz. Da stand ein altmodischer Pick-up-Truck. In der Mitte des Platzes standen riesige Kästen aus Metall. Fünf nebeneinander. Erst dachte ich, das sei eine elektrische Anlage, mit der das Anwesen mit Strom versorgt wird. Oder vielleicht Fallen für Wildtiere. Sie sahen grausam aus. Aber dann roch ich Rauch. Ich ging näher heran und leuchtete sie mit meiner Taschenlampe an. Ich sah, dass jeder der Kästen eine rostige Tür und oben einen Schornstein hatte. Überall auf dem Boden war ein blassgraues Pulver verstreut. Erst als ich durchlief, merkte ich, dass es Asche war. Die Kästen waren Verbrennungsöfen. Und sie waren vor kurzem benutzt worden, denn ich konnte spüren, dass sie immer noch Hitze absonderten.«
    Verbrennungsöfen.
    Das Wort erinnerte mich an diese Tunnel, die von dem unterirdischen Alkoven ausgingen, die schwarzen Eingänge mit der rudimentären Beschriftung, die in weißer Farbe über die Gänge gepinselt war. Ich konnte es kaum glauben und wusste nicht, wie es mir gelungen war, doch ich erinnerte mich an jeden einzelnen, als wären sie der Refrain eines Liedes, das ich als Kind gesungen hatte, so dass der Text für immer in meinem Kopf eingebrannt war.
    Torhaus. Haupthaus. See. Ställe. Werkstatt. Ausschau. Trophy. Pincoya Negra. Friedhof. Mrs Peabody. Labor. Das Z. Kreuzung.
    Nora legte die Stirn in Falten. »Ich habe mich an den Nachbarn in dem Wohnwagen erinnert, den du befragt hast, Nelson Garcia, und dass er erzählt hat, dass die Cordovas ihren gesamten Müll verbrennen. Ich bin zu einem der Kästen gegangen und habe die Tür geöffnet – bloß schwarze Wände und haufenweise Asche. Es roch schrecklich. Synthetisch und süßlich. Ich öffnete die anderen Türen und zog einen Ast durch die Asche, um zu sehen, ob noch was zu erkennen war. Da war nichts, nicht ein Haar. Ich suchte auch den Boden ab. Ich wollte irgendeinen Hinweis darauf finden, was sie dort mit solchem Aufwand zerstörten. Erst als ich den Truck untersuchte, fand ich etwas.«
    »Und was?«
    »Eine Glasampulle, wie sie Ärzte beim Blutabnehmen benutzen. Sie klemmte hinten in einer Ecke der Ladefläche. Sie sah leer aus, aber es klebte ein winziges rosa Etikett darauf mit einem Warnzeichen vor Biogefährdung. Sie müssen den Wagen benutzen, um medizinische Abfälle oder Giftmüll von irgendwo in The Peak zu transportieren und in diesen Öfen zu verbrennen. Die Ampulle muss aus Versehen herausgefallen sein.«
    Sie holte Luft. »Ich habe mich gefragt, ob das ganze Gelände verseucht war. Mir wurde übel, also bin ich abgehauen.« Sie starrte auf den Tisch vor sich. »Ich hatte das Gefühl, dass mir jemand folgte, aber jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, war da niemand. Als ich den Zaun erreichte, habe ich nicht überlegt. Ich bin einfach rüber. Es war mir egal, ob ich starb oder einen Stromschlag bekam oder mich verletzte. Ich bin direkt durch den Nato-Draht hindurchgeklettert, habe gar nichts gespürt. Ich wollte einfach nur noch raus und hätte mich von nichts abhalten lassen.«
    »Wie bist du zurück zum Motel gekommen?«
    »Ich stieß auf eine Straße – das war so gegen vier Uhr morgens –, und da hielt ein roter Kombi an, mit einer winzigen alten Dame hinterm Steuer. Sie bot an, mich mitzunehmen. Ich war wie gelähmt vor Angst. Ich war mir sicher, dass sie zu den Leuten in der Stadt

Weitere Kostenlose Bücher