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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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entfernt). Er trennte sich von seiner Familie, um kurz zurück zum Campingplatz zu gehen und sich lange Strümpfe anzuziehen – seitdem wurde er nie wieder gesehen. Eine Suche mit sechshundert Mann, inklusive Unterstützung durch die U. S. Air Force, führte zu keinerlei Hinweis darauf, was mit dem Jungen passiert war.
    Schatten, die machten, was sie wollten, Todes- und Teufelsflüche, schwarze Flüsse und Monster mit Rindenhaut, eine Welt mit unsichtbaren Spalten, in die man jederzeit stürzen konnte – nach dem, was mir in The Peak widerfahren war, hätte ich tatsächlich an all das geglaubt. Hatten meine Nachforschungen zu Cordova nicht die Ränder einer solche Realität sichtbar werden lassen – einer Welt, die unendlich mysteriös war, von Rätseln umgeben, für die es keine Erklärungen gab? Vielleicht war Cordova ein Wahnsinniger, der in seinem Leben und seinem Werk alle Grenzen zwischen Phantasie und Realität unwiderruflich ausgelöscht hatte. Aber war es ihm nicht tatsächlich gelungen, da oben eine Form von Macht auszuüben, welcher Art auch immer? Stimmte das nicht? Hatte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen?
    Doch jetzt wusste ich nicht mehr, was ich glaubte. Der logische Schluss war, dass ich einfach zu viel Stechapfel ausgesetzt gewesen war. Und überhaupt, was dachte sich Cordova – oder Popcorn – dabei, in diesem Gewächshaus genügend giftige Pflanzen zu züchten, um eine ganze Armee zu vernichten?
    Je mehr ich über die vermissten Personen las, desto mehr schienen diese rätselhaften Fälle in Millionen dünner Fäden auszufransen. Trotzdem notierte ich mir alle Details, alle Entwicklungen, von denen die Lokalzeitungen und die Suchblogs für Vermisste berichtet hatten. Als mein Hirn überlastet war, riss ich mich vom Computer los und beschloss, nach Uptown zum
Klavierhaus
zu fahren.
    Wenn Ashley als Kind häufig dort gewesen war, wie Hopper erzählt hatte, dann wollte ich mit jemandem sprechen, der sie noch von damals kannte. Der Geschäftsführer, mit dem wir geredet hatten, Peter Schmid, würde mir dabei helfen können, so jemanden zu finden.
    Doch als ich dort ankam, erfuhr ich, dass etwas Seltsames passiert war – eigentlich war es überhaupt nicht seltsam, wenn man bedachte, womit ich mich in den letzten drei Tagen beschäftigt hatte.
    Peter Schmid war nicht mehr da.

104
    »Was soll das heißen?«, fragte ich.
    »Er hat gekündigt«, sagte der junge Mann hinter dem
Klavierhaus
-Verkaufstresen.
    »Wann?«
    »Vor zwei Wochen.«
    »Und wo ist er jetzt?«
    »Keine Ahnung. Es geschah ziemlich plötzlich. Mr Reisinger, der Besitzer, war sauer, weil wir jetzt unterbesetzt sind. Ich bin bloß Praktikant. Aber Peter hatte Probleme.«
    »Haben Sie seine Telefonnummer?«
    Der Junge suchte die Nummer heraus und ich wählte sie, während ich das Geschäft verließ – der Fazioli Flügel, auf dem Ashley gespielt hatte, stand noch immer im Schaufenster.
    Ich blieb fassungslos auf dem Gehsteig stehen. Eine Stimme vom Band teilte mir mit, dass es den Anschluss nicht mehr gab.
    Ich wusste nicht, was das bedeutete – nur, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte.
    Ich hielt ein Taxi an und betrat Minuten später die Lobby von The Campanile – des Gebäudes, in dem Marlowe Hughes wohnte. Ich erkannte den pausbäckigen Portier, der an dem Tag Dienst hatte, als ich Harold getroffen hatte.
    »Ich suche Harold«, sprach ich ihn an.
    »Der arbeitet hier nicht mehr. Der hat was Neues in der Fifth. So ein Angeberhaus mit weißen Handschuhen …«
    »Und
welches
? Ich brauche die Adresse.«
    »Hat er nicht gesagt.«
    »Ich muss nach oben, um Marlowe zu sehen.« Ich reichte ihm meine Visitenkarte. »Ich bin ein Freund von Olivia Endicott.«
    »Marlowe?«
    »Marlowe Hughes. Apartment 1102 .«
    Die Sache schien ihm unangenehm zu sein. »Ja, Miss Hughes ist … nicht da.«
    »Wo ist sie denn?«
    »Ich kann wirklich nicht mehr dazu sagen.«
    Ich spürte, wie mich die Angst packte, und gab dem Mann hundert Dollar, die er freudig einsteckte.
    »Sie haben sie in die Entziehungskur geschickt«, sagte er leise. »Es ist was vorgefallen. Aber es geht ihr gut.«
    »Könnten Sie mich trotzdem in ihr Apartment lassen?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid. Da war seitdem keiner drin …«
    »Ich weiß, dass Olivia nicht im Lande ist, aber rufen Sie doch ihre Assistentin an. Die wird es erlauben.«
    Er sah mich skeptisch an, aber wartete geduldig, bis ich die Nummer gefunden hatte.
    »Ja,

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