Die amerikanische Nacht
ein Wunder, dass ich nicht tot war, dass ich nicht irgendwo auf dem Gelände bewusstlos geworden oder in eine Schlucht gestürzt war – oder von der Teufelsbrücke gesprungen, weil ich dachte, ich könnte fliegen. Abgesehen von den offensichtlichen Sorgen um meine Sicherheit stellte das alles in Frage, was ich da oben gesehen oder erfahren hatte. Ich konnte ab dem Punkt, an dem ich das Gewächshaus betreten hatte, keiner einzigen Erinnerung mehr vertrauen.
Hatte ich diesen Stock-Mann tatsächlich gesehen, war ich wirklich in den sechseckigen Kästen gefangen gewesen? Hatte ich den tiefen Graben gesehen, oder hatte mein eigener Wunsch, konkrete Beweise zu finden, ihn vor meinen Augen heraufbeschworen? Diese Leute in den schwarzen Umhängen, die mich umzingelt hatten – von denen einer im Beichtstuhl gewartet hatte –, hatte es die wirklich gegeben? Oder waren sie eine drogeninduzierte Ausgeburt meiner Ängste?
Jetzt konnte ich weder das eine noch das andere beweisen.
Da hätte ich auch gleich eine verdammte Crackpfeife rauchen können.
Es war, gelinde gesagt, zum Verzweifeln.
Angewidert und irgendwie wütend auf mich selbst, dass ich nicht besser aufgepasst hatte, beschloss ich, mich stattdessen mit etwas Konkreterem zu befassen, etwas
eindeutig Realem
– der Recherche nach vermissten Personen in den Adirondacks.
Innerhalb weniger Stunden hatte ich mit Hilfe einer Datenbank des Zentrums für Vermisste & Misshandelte Kinder eine Liste von Personen zusammengestellt, die von 1976 an – dem Jahr, in dem Cordova das Anwesen bezog – bis heute im Umkreis von fünfhundert Kilometern von The Peak als vermisst gemeldet wurden.
Die Zahl der vermissten Personen nahm ab 1992 deutlich zu, dem Jahr, in dem Ashley die Brücke überquerte und sich den Teufelsfluch einfing.
Außerdem verschwand am 6 . August 1978 ein kleiner Junge aus Rome, New York (hundertachtzig Kilometer von The Peak entfernt), in dem Jahr also, in dem »Daumenschraube« auf dem Grundstück gedreht wurde. Die vier Kinder, die in »Daumenschraube« als ermordet gemeldet werden, sind zwischen sechs und neun Jahre alt. Das war eine dünne Spur, doch falls Falcone mir bestätigen sollte, dass es tatsächlich menschliches Blut war, dann war Brian Burton ein interessanter Anfangspunkt. Er war sechs Jahre alt, als seine Mutter, eine Bedienung im Yoder Motel and Restaurant, ihr Auto unerlaubterweise auf dem Gehsteig abstellte und ins Restaurant lief, um eine Rechnung zu bezahlen. Ihren Sohn ließ sie allein auf dem Rücksitz. Sie hatte das Auto abgeschlossen, aber die hinteren Fenster einen Spaltbreit geöffnet. Als sie nach weniger als zehn Minuten zurückkehrte, war das Auto aufgeschlossen und ihr Sohn nicht mehr da. Er wurde nie wieder gesehen.
Die weiteren Vorfälle waren ähnlich mysteriös – so viele symbolhafte Details: Sophie Hectas Halskette mit Medaillon, Jessica Carrs Buntstiftzeichnung eines schwarzen Fisches, die ihre Eltern in ihrem Bett fanden, als sie ihr Verschwinden bemerkten. Leider (und wenig überraschend, weil Cordova wahrscheinlich genau wusste, wie man seine Spuren verwischte), verband keines der Details, von denen ich las, einen der Fälle direkt mit dem Regisseur – es gab keine Parallelen zu seinen Filmen, nie wurde ein mysteriöser Mann mit schwarzer Brille gesehen, die seine Augen auslöschten.
Nichts
– doch dann stieß ich auf einen dürftigen Hinweis.
Laura Helmsleys Spind war eine Woche, bevor sie von zu Hause weglief, ausgeplündert worden, sie hatte ihr Tagebuch beim Schulsekretariat als gestohlen gemeldet. Dieses Detail erinnerte mich vage an die Vorfälle, die John, der anonyme Anrufer, beschrieben hatte. Hatte Cordova das Tagebuch des Mädchens gestohlen, weil er hoffte, sie könne als gleichwertiger Ersatz für Ashley dienen? Die Polizei glaubte, dass Laura einfach mit ihrem älteren Freund abgehauen war. Sie waren zwei Tage nach ihrem Verschwinden von der Überwachungskamera eines
White Castle
-Drive-Through-Restaurants gefilmt worden.
Doch man hatte seit über zehn Jahren nichts von ihr gehört.
Bevor ich über die halluzinogenen Pflanzen gelesen hatte, hätte ich vielleicht an eine weitere Möglichkeit geglaubt, nämlich dass die Welt sich aufgetan und diese Leute verschluckt hatte. Das schien die einzig logische Erklärung im Falle von Kurt Sullivan zu sein, der auf einem dreißig Meter langen Spaziergang im Moose River Plains Wild Forest verschollen war (hundertfünfzig Kilometer von The Peak
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