Die amerikanische Nacht
der Straße angelangt. Es war eindeutig eine Sackgasse.
Es gab keine Beweise für ein Verbrechen.
Doch dann wurde mir klar, dass es einen letzten Stein gab, den ich noch nicht umgedreht hatte. Es gab noch eine Person, die Aufschluss über die Situation geben konnte, die aus der Perspektive eines Insiders erklären konnte, was das alles zu bedeuten hatte – und diese Person war Cordovas langjährige Assistentin, Inez Gallo.
Ich musste nur abwarten, bis sie in das Stadthaus zurückkehrte. Ich würde so lange warten wie nötig. Und wenn die Frau dann endlich auftauchen würde – ob morgen oder in drei Jahren –, würde ich bereit sein.
109
Es geschah am zwölften Tag, an dem ich das Haus beobachtete. Kurz nach fünf kehrte ich gerade von einem Deli in der Lexington Avenue zurück, als ich eine kleine Frau in einem schwarzen Mantel sah, die schnell einen halben Häuserblock vor mir ging.
Es war Inez Gallo. Ich erkannte sie sofort: das unordentlich geschnittene Haar, die gebeugte, kräftige Haltung, wie die eines winzigen Bullen, der sich auf den Angriff vorbereitet. Als wollte sie mich nicht sehen, eilte sie die Stufen hinauf und verschwand im Haus.
Ich wartete einige Minuten. Als klar war, dass die Straße menschenleer blieb, packte ich das schmiedeeiserne Gitter vor dem Fenster im Erdgeschoss und begann hinaufzuklettern. Ich musste Gallo überrumpeln und erinnerte mich, wie Hopper es gemacht hatte: Er hatte seine Füße zwischen die Gitterstäbe geklemmt und dann seinen rechten Fuß auf der altmodischen Lampe über der Haustür abgestützt. Ich griff nach dem Geländer im ersten Stock, das sich weit über meinem Kopf befand, und schaffte es, mich zum Balkon hinaufzuziehen. Dann hakte ich mein rechtes Bein seitlich fest, kletterte hinauf und ließ mich auf den mit Blättern übersäten Boden fallen. Ich ging zum Fenster ganz rechts, bei dem Ashley den Alarm ausgestellt hatte.
Gallo musste unten in der Eingangshalle eine Menge Lampen eingeschaltet haben, denn das Licht fiel durch die Zimmertür in den Raum hinein, so dass ich etwas erkennen konnte. Es war eine kunstvoll verzierte, holzgetäfelte Bibliothek. Jedes Möbelstück war mit weißen Laken verhängt.
Ich holte eine Kreditkarte heraus, schob sie unter den Fensterrahmen und hob ihn so weit an, dass ich die Finger darunterstecken konnte. Dann schob ich das Fenster hoch und kletterte hindurch.
Hopper hatte gesagt, dass das Stadthaus an dem Abend, als er eingebrochen war, wirkte, als sei die Zeit stehengeblieben. Er fand jeden Gegenstand genau dort, wo er sieben Jahre zuvor gewesen war – an dem Tag, an dem Ashley und er nach Brasilien aufbrechen wollten und sie ihn hatte sitzenlassen.
Genau dieselben Laken, die man hastig über die Möbel geworfen hatte
, hatte er gesagt,
dasselbe Musikstück auf Ashleys Flügel
. Jetzt war alles sorgfältig bedeckt und weggeräumt; als ich das Laken von dem massiven Steinway anhob, der in der hinteren Ecke bei den Bücherregalen stand, waren da keine Noten. Es schien mir, als habe jemand, vielleicht Inez Gallo, das Haus nun gründlicher aufgeräumt, vielleicht als Reaktion auf Hoppers Einbruch. Oder die Familie hatte sie darum gebeten, nachdem Ashleys Leiche gefunden worden war.
Gegenüber dem Eingang der Bibliothek stand ein Sessel, von dem aus man den beleuchteten Treppenabsatz und die Wendeltreppe einsehen konnte. Ich setzte mich und wartete. Minuten später konnte ich Schritte hören, die schnell die Stufen heraufkamen.
Auf einmal war sie da – Inez Gallo eilte in einer ausgebeulten grauen Wollhose und einer weißen Bluse über den Treppenabsatz, auf dem Weg nach oben.
»Miss Gallo.«
Sie erstarrte vor Schreck. Dann fuhr sie herum und sah in den Raum hinein, in dem ich saß, obwohl sie wahrscheinlich außer meiner Silhouette nicht viel erkennen konnte.
»Oder soll ich lieber
Coyote
sagen?«
Sie sprang wütend in den Raum, tastete nach dem Lichtschalter, und plötzlich war die Bibliothek in das dämmrig goldene Licht der Deckenlampe getaucht.
Als sie mich sah, musterte sie mich mit genügend Verachtung, um mir zu zeigen, dass sie genau wusste, wer ich war.
»Tut mir leid, so hereinzuplatzen.«
»Leute wie Sie reagieren auf nichts. Ich hoffe, Sie schlafen gerne im Gefängnis.« Sie hatte eine tiefe, kehlige Stimme, die zu einem Trucker oder einem 1 , 85 Meter großen Türsteher gepasst hätte, aber nicht zu einer kräftigen, kleingewachsenen Frau. Sie war kaum 1 , 50 Meter, aber gebaut wie ein
Weitere Kostenlose Bücher