Die amerikanische Nacht
der Regel wird es nicht gezeigt – zum Verräter geworden, zur Hure, zum Überläufer, zum Deserteur, und man kann ihr nicht mehr vertrauen. So erinnert uns Cordova an unseren allgegenwärtigen inneren Kannibalen und daran, dass wir letzten Endes alle räuberische Bestien sind, die ihre hässlichsten Begierden befriedigen, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt. Es heißt, es sei sein Lieblingsessen.«
Ich war mir nicht sicher, ob ich jemanden Tatar hatte essen sehen. Ich machte ein Fragezeichen dahinter.
»Böser König?«
»Böser König«, sagte Beckman feierlich und räusperte sich. »Er ist der Schurke. Eine absolut furchterregende Figur aus den Sagen oder der echten Welt. Er kann äußerlich abstoßend oder völlig harmlos aussehen. Meist ist es jemand in einer Machtposition. Je schlauer und hinterhältiger der Böse König, desto turbulenter und befriedigender ist das Gewitter, das er entfacht.«
Das war einfach.
Cordova.
»Phil Lumen?«
Beckman nickte. »Ein kleines Detail. Phil Lumen ist die Firma, die sämtliche Lichtquellen in allen Cordova-Filmen hergestellt hat. Glühbirnen, Taschenlampen, Scheinwerfer, Stroboskope, Lavalampen und Straßenlaternen – alle stammen von Phil Lumen, das heißt übersetzt
Liebe zum Licht
. Gelegentlich wird der Name in einem Flughafen oder über die Sprechanlage eines Supermarktes ausgerufen. ›Mr Phil Lumen wird gebeten, sich bei United Airlines in Terminal B zu melden.‹«
Ich konnte mich nicht erinnern, etwas in dieser Richtung gehört zu haben – nicht, dass es mir aufgefallen wäre.
»Und Der Schatten?«
Beckman lächelte traurig. »Mein persönlicher Favorit. Der Schatten ist das, hinter dem die Figuren die ganze Geschichte hindurch herjagen. Es ist eine große Macht, die genauso verzaubert, wie sie quält. Es kann in die Hölle oder den Himmel führen. Es ist die Höhle in einem selbst, die sich nie füllen lässt. Es ist alles, an das man nicht herankommt, was man nicht festhalten kann, so flüchtig und schmerzhaft, dass es einem den Atem verschlägt. Manchmal bekommt man es sogar kurz zu sehen, bevor es verschwindet. Aber das Bild lässt einen nicht mehr los. Man vergisst es sein ganzes Leben nicht. Man hat Angst davor und sucht paradoxerweise zugleich danach. Ohne unsere Schatten sind wir nichts. Sie geben unserer ansonsten blassen, blendenden Welt Konturen. Sie erlauben uns zu sehen, was direkt vor uns liegt. Und doch verfolgen sie uns, bis wir tot sind.«
Das war Ashley.
Beckman beschrieb ganz genau meine Begegnung mit ihr am Reservoir See. Während er mir zusah, wie ich ihren Namen notierte, wanderten seine glänzenden Augen von dem Wort zu meinem Gesicht.
»Und weiter?«, fragte ich.
»Was meinst du mit
weiter
?«
»Cordovas Kopf. Seine Geschichten.«
Nach kurzem Zögern zuckte Beckman mit den Schultern. Er wirkte jetzt wehmütig. »Diese Konstanten, die in Cordovas Hirn vor sich hin gären, sind alles, was ich gefunden habe. Der Rest ist, wie man so sagt – nicht
Geschichte
, der Ausdruck hat mir noch nie gefallen –, aber Revolution. Permanenter Umbruch. Wandel. Wechsel. Oh Mann!« Er zuckte zusammen, offenbar war ihm noch etwas eingefallen. »Eine Sache noch, McGrath.«
»Was?«
»Oft begegnet der Held in Cordovas Geschichten an irgendeinem Punkt einer Figur, die das Leben und der Tod selbst ist. Er oder sie steht an der Kreuzung zwischen den beiden, am Anfang des einen, dem Ende des anderen.« Beckman holte kurz Luft und zeigte auf mich. »Das ist ein Köder, ein Stellvertreter, der dem Echten die Freiheit verschafft. Das ist Cordovas Lieblingsfigur. Sie ist immer da, wo Cordovas Verstand am Werk ist, egal was passiert. Verstanden?«
Ich war mir nicht sicher, dass ich verstand, aber ich machte mir schnell eine Notiz dazu.
»Und was ist mit den Enden?«
»Den Enden?« Beckman sah mich verwundert an.
»Wie geht am Ende alles aus?«
Er kratzte sich nervös am Kinn, zu besorgt, um weiterzusprechen.
»Du weißt es so gut wie ich, McGrath. Seine Enden sind seismische Schocks für die Psyche. Schlusseinstellungen, die einen tagelang wach liegen und grübeln lassen, manchmal für den Rest des Lebens. Bei Cordova weiß man einfach nie. Seine Enden können so viel Hoffnung und Erlösung versprechen wie die kleine grün-weiße Knospe einer Blume. Sie können aber auch ein verheerendes, verkohltes Schlachtfeld sein, voller abgetrennter Beine und Zungen.«
Ich notierte es mir, mit einem Anflug von Furcht, und steckte den Zettel in die
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