Die amerikanische Nacht
mit siebzehn – ich spürte, wie mich die Fassungslosigkeit packte: Mit siebzehn hatte Ashley Hopper weinend angerufen.
Sie war verzweifelt
, hatte er gesagt.
Sie konnte nicht mehr mit ihren Eltern zusammenleben. Sie wollte irgendwohin, wo sie sie nicht finden würden.
Hatte sie vor ihrer Krankheit fliehen wollen?
»Es ist nicht Ihre Schuld«, verkündete Gallo, als habe sie meine Gedanken gelesen. »Welchen Quatsch Sie auch immer geglaubt haben, Flüche und Satan, der Schwarze Mann –
wobei
, wenn ich ehrlich bin, hätte ich gedacht, dass ein erwachsener Mann, ein erfahrener Reporter ein wenig skeptischer sein würde. Aber nehmen Sie’s nicht so schwer. Ashley war ein charismatisches Mädchen. Sie wären überrascht, wovon sie die Leute im Laufe der Jahre überzeugt hat. Sie war ziemlich gut darin, Menschen das Unmögliche glauben zu lassen. Genau wie ihr Vater. Sie hatten beide dieses Talent, einen bei der Hand zu nehmen und tief in die Augen zu schauen, so dass man ihnen in die unterirdischen Gänge des Absurden und Unglaublichen folgte und dort jahrelang lebte, komplett konvertiert. Ich weiß es. Ich habe es selbst so gemacht. Sechsundvierzig Jahre lang. Habe alles aufgegeben. Meinen Mann. Meine Kinder. Aber jetzt ist es vorbei und ich verstehe. Wahrscheinlich, weil ich keiner von ihnen bin. Ich habe keine Schwierigkeiten, zwischen Schein und Realität zu unterscheiden.
Ich
lebe in der echten Welt. Genau wie
Sie
.«
Sie sagte das mit Nachdruck, sogar Wut, und verschränkte die Arme.
»Ihre Krankheit hat die Familie auseinandergerissen. Bei kleinen Kindern ist die Prognose bei ALL gut. Nach der ersten Behandlung kommt es bei den meisten zu einer Remission, die ein Leben lang anhält. Bei Ashley war das nicht der Fall. Jedes Mal, wenn wir dachten, dass sie über den Berg war, dass ihr endlich ein Leben ohne Spritzen und Steroide, ohne Lumbalpunktionen und Stammzellentransplantationen vergönnt war, vergingen ein paar Jahre, dann wurde sie untersucht, und die Ärzte überbrachten uns wieder die schreckliche Nachricht.
Matilde
war wieder da.«
»Matilde?«, fragte ich.
Sie nickte und sah mich an. »Das war Ashleys Name für ihre Krankheit. Sie hat ihr einen Spitznamen gegeben, so wie andere Kinder ihren Phantasiefreunden Spitznamen geben. Daran sieht man schon, wie sie tickte. Als sie fünf war, kam sie eines Morgens in die Küche, aß eine Schüssel Cornflakes und erzählte dabei ihrer Mutter fröhlich, dass sie eine neue Freundin hatte.
Wer ist es
?, fragte Astrid.
Matilde
, sagte sie. Das war ein seltsamer Name. Niemand wusste, woher sie ihn hatte.
Matilde wird mich umbringen
, sagte Ashley. Alle waren bestürzt, aber sie war schließlich die Tochter ihres Vaters. Sie mochte es dramatisch. War mit einer extrem ausgeprägten Vorstellungskraft gesegnet – man könnte auch sagen,
gestraft
. Gleich am nächsten Tag hatte Ashley hohes Fieber. Auf ihren Armen und am Rücken waren kleine rote Flecken zu sehen. Astrid fuhr mit ihr ins Krankenhaus und die Ärzte hatten die schlimme Nachricht für uns.«
»Sollte ›Matilde‹ nicht der Titel des nächsten Filmes von Cordova sein? Der nie veröffentlicht wurde?«
Gallo nickte. »Er wollte darüber schreiben. Aber er konnte nicht. Über etwas so Schlimmes zu schreiben ist wie in die Sonne zu starren, Tag für Tag. Man kann sie nie richtig erkennen, so sehr man es auch versucht. Aber man wird mit Sicherheit erblinden.« Sie seufzte. »Er wollte an keinem Film arbeiten, er wollte nur seine Tochter retten. Für Eltern ist es unerträglich, ein Kind zu verlieren. Aber noch schlimmer ist es, sein Kind leiden zu sehen, jeden Tag, zuzusehen, wie es endlos zwischen Leben und Tod schwankt und ein Leben des Todes lebt. Aber man zieht es durch, kämpft immer weiter, weil man hofft, dass es irgendwann nicht mehr so sein wird. So grausam kann das Leben sein. Es gibt einem gerade so viel Hoffnung, dass man weitermacht, wie ein kleiner Becher Wasser und eine Scheibe Brot für jemanden, der kurz vorm Verhungern ist.«
Sie hielt inne, um an ihrem Drink zu nippen. »Ashley entschied, niemandem außerhalb der Familie davon zu erzählen«, fuhr sie fort. »Gegen den Rat der Ärzte. Aber sie bestand darauf. Sie wollte nicht bemitleidet werden. Sie sagte – und damals war sie gerade mal sechs –, dass es viel mehr weh tun würde, wenn man um sie herumschleichen und sie behandeln würde, als wäre sie ein zerbrechlicher Schmetterling mit abgerissenem Flügel, als die Schmerzen,
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