Die amerikanische Nacht
wir sie kaum dazu bringen, zu gehen. Sie wollten für immer bleiben.«
»Wie Kinder, die Disney World nicht mehr verlassen wollen.
Rührend.
«
Sie kniff die Augen zusammen. »Was versprechen Sie sich hiervon?«
»Die Wahrheit.«
»Die Wahrheit.«
Sie grinste, so kurz wie der Funke eines defekten Feuerzeugs, dann sah sie mich ernst an. Ich merkte, dass mein Auftauchen sie wirklich schockiert hatte – da war ich mir sicher. Sie schien jetzt zu überlegen, wie sie am besten mit der Situation umgehen sollte, wie sie mich am schnellsten wieder loswurde. Sie musste sich dafür entschieden haben, mitzuspielen, zumindest fürs Erste, denn sie legte den Kopf schief und lächelte gezwungen.
»Möchten Sie etwas trinken?«
»Solange es kein Arsen enthält.«
Sie goss mir ein Glas Jameson Whiskey aus derselben Flasche ein, die sie für sich genommen hatte. Dann hastete sie zu mir herüber und streckte mir den Drink entgegen.
Als sie sich auf das Sofa neben dem Sessel setzte, fiel mir auf, dass sie tatsächlich ein kleines Rad auf dem linken Handrücken tätowiert hatte – ganz genau, wie ich es vor Wochen auf den Blackboards gelesen hatte. Der anonyme Autor des Posts hatte darin den Beweis gesehen, dass Gallo und Cordova dieselbe Person waren. Während ich mir ihr strenges Profil ansah, dachte ich über diese Möglichkeit nach, dass der Regisseur und seine Assistentin ein und dieselbe Person waren, dass
dies
Cordova war. Doch da war etwas Unterwürfiges und Unerfülltes an dieser Frau, an der Haltung eines gedrungenen Leutnants, diesen hin und her flitzenden Augen – als sei das Objekt ihrer ewigen Zuwendung nicht anwesend, sondern irgendwo im Hintergrund.
Nein, sie war eindeutig nicht Cordova. Da war ich mir sicher. Und sie spielte auf Zeit.
»Wenn Sie das Gerüst hinter allem sehen wollen, Mr McGrath«, sagte sie und starrte mich an, »sollten Sie sich ganz sicher sein, dass Sie es wirklich sehen wollen. Die Kurbeln und Seile und Metallstützen. Den Rost und die schweren Ketten. Lampen, die akribisch an der Decke angebracht wurden. Das ist eine andere Realität als die auf dem Bildschirm. Lange nicht so spannend.«
Sie legte den Kopf schief, als sei ihr gerade ein neuer Gedanke gekommen, musterte mein Gesicht und lächelte dünn.
»Schon lustig. Ich hätte gedacht, dass wenigstens Sie ihr auf die Schliche kommen. Es ist Ihnen wirklich nie aufgefallen?«
»Was ist mir nicht aufgefallen?«
»Sie müssen doch Andeutungen bemerkt haben, hier und da, Hinweise …«
»Hinweise
worauf
?« Ich merkte, dass ich plötzlich nicht mehr die Oberhand hatte, dass Inez Gallo sich erholt hatte – vielleicht hatte ich sie auch nie in die Ecke gedrängt.
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Sie haben es wirklich nicht durchschaut?«
»Was durchschaut?«
»Ashley war
krank
.«
»Der Teufelsfluch.«
Sie gluckste. »Ich kann Ihnen versichern, genau wie eine Armee von Ärzten und Spezialisten aus der ganzen Welt, dass Ashley nie unter einem
Teufelsfluch
gelitten hat. Oder sonst irgendeinem Fluch. Sie hatte Krebs. Akute lymphatische Leukämie. Die hatte sie mit Unterbrechungen ihr ganzes Leben lang.«
Ich starrte sie verblüfft an.
Im ersten Augenblick wollte ich ihr wütend sagen, dass ich wusste, was sie da tat, mich mit einer weiteren Lüge abspeisen, damit ich ihr vertraute. Die Behauptung war absurd und ich wusste, dass es nicht stimmte.
Es konnte nicht sein.
Doch dann fragte ich mich, ob ich etwas übersehen hatte – und auch Hopper –, ob diese echte Krankheit die ganze Zeit da gewesen war, in den Sand geschrieben, und ob wir zu angestrengt aufs Meer hinausgestarrt hatten, ohne auch nur einmal auf das zu achten, was direkt vor unseren Füßen lag.
»Rufen Sie das Sloane-Kettering Krebszentrum an, wenn Sie mir nicht glauben«, fügte Gallo gereizt hinzu. »Suchen Sie sich jemandem vom Archiv, den Sie bestechen können. Der wird es Ihnen bestätigen. Ashley war dreimal in Behandlung, unter dem Namen Goncourt, dem Mädchennamen ihrer Mutter. Beim ersten Mal war sie fünf, beim zweiten Mal vierzehn und beim letzten Mal siebzehn. Das war in der University of Houston, Texas.«
Sie sah mich triumphierend an. »Sie werden sehen, dass ich die Wahrheit sage.«
Ich sagte nichts, während ich die Daten im Kopf durchging. Ashley war fünf Jahre alt, als sie die Teufelsbrücke überquert und den Fluch auf sich gezogen hatte. Mit vierzehn hatte sie ganz plötzlich ihre Laufbahn als klassische Pianistin abgebrochen, und
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