Die amerikanische Nacht
schon eine starke Persönlichkeit. So stark wie die ihres Vaters. Die beiden fingen an, sich ständig zu streiten – sich zu
bekriegen
. Die Ärzte hatten uns gewarnt, dass die Steroide, die Ashley einnahm, zu Stimmungsschwankungen führen konnten – zu Wutanfällen, sogar zu Gewalt. Niemand konnte die beiden unter Kontrolle halten. Astrid nicht. Ich auch nicht. Es war, als würden wir mit zwei Drachen zusammenleben, und wir waren alle Spatzen, die in Schränken und unter Stühlen in Deckung gingen und hofften, nicht im Kreuzfeuer zu verbrennen.«
»Worüber haben sie sich gestritten?«, fragte ich.
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Ich weiß nicht, ob Sie sich mit dem Temperament von Genies auskennen, aber die haben Bedürfnisse, von denen normale Menschen gar nichts wissen. Wenn man sich einer solchen Person verschreibt, muss man das akzeptieren, sonst leidet man nur. Um so eine Person zu überleben, muss man sich ständig beugen und verbiegen wie ein Stück Draht, immer Rücksicht nehmen. Man verändert immerzu seine Form. Es gab ständig andere Frauen.
Andere Männer.
Andere
irgendwas
. Astrid nahm das hin. Aber sobald Ashley alt genug war, um es zu verstehen, fand sie es gewissenlos – sie hielt es für eine Art Maßlosigkeit seinerseits, einen Mangel an Integrität, einen kompletten Verrat an der Familie. Einer seiner langjährigen Liebhaber kam zurück in die Stadt und zog wieder in The Peak ein, ein Mann, den Ashley nicht ausstehen konnte. Eines Nachts, als ich zufällig gerade weg war, ging sie in sein Schlafzimmer, als er schlief, und steckte sein Bett in Brand. Astrid wollte keine negative Presse und brachte den Mann, der vor Schmerzen schrie, mitten in der Nacht weg vom Gelände. Auf der Fahrt kam es zu einem Unfall. Theo rettete den Mann, bevor ein Krankenwagen eintraf und schaffte es, ihn in eine Notaufnahme zu bringen, ohne gesehen zu werden. Aber Ashley setzte sich durch. Der Mann verschwand.« Sie warf mir einen kurzen Blick zu. »Ich denke, das meiste davon wissen Sie bereits.«
Ich nickte. »Der Mann war Hugo Villarde. Die Spinne. Ein falscher Priester.«
»Es war meine Idee, Ashley in das Camp zu schicken«, verkündete sie.
»Das Six Silver Lakes-Camp.«
»Man hatte es uns empfohlen. Sie können sich vorstellen, wie wir uns fühlten, als wir erfuhren, dass es dort einen Unfalltod gegeben hatte – ein Junge war während eines Unwetters ertrunken. Aber als ich Ashley abholte, war sie …
anders
.« Sie zuckte mit den Schultern, ihr Gesichtsausdruck war ein wenig zynisch. »Sie hatte einen Jungen kennengelernt. Sie nannte ihn den einsamsten Jungen der Welt. Sie beschrieb ihn als schönes rotes Ahornblatt, das sich zu früh vom Baum gelöst hatte. Und das durch Wind und Regen trieb, durch Abflüsse und über Felder hinweg, völlig allein, an nichts gebunden. Und doch glaubte sie, dass etwas durch und durch Gutes an ihm war. Kurz danach fand sie heraus, wo er war, und sie begannen, wie soll ich sagen – eine
Korrespondenz
. Ich weiß nicht, was sie sich schrieben oder erzählten, aber sie war wieder munter und lebendig. Ihr Vater war erleichtert. Wir alle. Ashley wollte The Peak verlassen, sie wollte normale Menschen um sich haben, ein ganz normales Leben führen. Er hat dieses Haus für sie gekauft.«
Sie hielt inne, um sich müde umzusehen, als würde sie sich erinnern, wie warm und voller Leben es hier einmal gewesen war, voller Stimmen und Musik, bevor alles wie eine untergegangene Zivilisation unter den weißen Laken begraben wurde.
»Es fühlte sich an wie ein neuer Anfang. Wir haben sie hier zur Schule angemeldet. Ich habe gebetet, dass er seine Arbeit wieder aufnimmt.«
»Um einen neuen Film zu drehen.«
Gallo nickte und trank den Rest ihres Whiskeys.
»Die Prognose wird bei Krebs mit jedem Rückfall schlechter. Die Chancen, langfristig zu überleben, schwinden. Im Körper sammeln sich Giftstoffe an, die ihn von innen heraus zerstören. Anfang Mai sollte Ashley zu einer Kontrolluntersuchung. Sie wollte nicht hingehen. Natürlich weil sie das Ergebnis schon kannte. Das tat sie immer. Ihre Ärzte empfahlen eine Behandlung, zu der auch klinische Studien gehörten, ein Forschungsprogramm in Houston. Kurz darauf entdeckte Astrid einen gepackten Koffer, der in Ashleys Schlafzimmer versteckt war. Und zwei einfache Flugtickets nach Brasilien. Als Astrid Ashley zur Rede stellte, sagte die, dass sie mit Hopper abhauen würde, und dass sie niemand davon abhalten könne. Sie wollte
Weitere Kostenlose Bücher