Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
Vom Netzwerk:
die ihr Matilde zufügte. Wir alle schlossen einen Pakt mit ihr und schworen, dass wir niemandem davon erzählen würden. Und wenn es Ashley nicht gut genug ging, um in die Welt hinauszugehen und das Leben kennenzulernen, sorgte ihr Vater dafür, dass das faszinierendste und außergewöhnlichste Leben zu ihr kam. Vier-, fünfmal die Woche musste sie ins Krankenhaus. Dazwischen wurde sie zu Hause in The Peak unterrichtet. Das Anwesen wurde zu einer Kulisse, einem Hotel, einer versteckten und geheimen Herberge, die rund um die Uhr von Philosophen, Schauspielern, Künstlern und Wissenschaftlern bevölkert wurde. Sie alle brachten Ashley bei, wie man lebt und denkt und träumt. Eigentlich haben sie das uns allen beigebracht.«
    Sofort musste ich an das Picknick denken, das Peg Martin beschrieben hatte. Ashley war damals sechs Jahre alt. Das war ungefähr zu der Zeit, als ihre Behandlung zu Ende ging – falls Gallo die Wahrheit sagte.
    Ashley nahm mich an die Hand und brachte mich zu einem einsamen Teil des Sees, wo eine Weide stand und hohes Gras. Das Wasser war smaragdgrün. Sie fragte, ob ich die Trolle sehen konnte.
    »Astrid ließ dreimal in der Woche eine Konzertpianistin vom Julliard Konservatorium kommen, die Ashley Unterricht gab. Die Ärzte hatten uns gewarnt, dass einige der starken Medikamente, die bei der Behandlung eingesetzt wurden, Spätfolgen für ihr Nervensystem haben könnten, dass sie ihre Motorik und Geschicklichkeit schwächen könnten. So etwas wie Klavierspielen würde dadurch schwierig, wenn nicht unmöglich. Ihre Hände und Finger könnten taub oder überempfindlich werden. Sie könnte Schwindelanfälle bekommen. Aber bei Ashley hatten die Medikamente die gegenteilige Wirkung. Sie konnte erstaunlich schnell spielen. Ihr Gedächtnis, die Fähigkeit, selbst die kompliziertesten Stücke zu meistern, war plötzlich
übermenschlich
. Am Piano begann sie wieder zu leben, dem Tod zu entkommen, über Kontinente und Bergketten und Seen zu segeln. Sie war gerade in Remission, als sie den ersten Platz beim Internationalen Tschaikowsky Wettbewerb in Moskau gewann. Aber drei Jahre später, als sie vierzehn war, kam die nächste schlimme Nachricht.
Matilde
war zurückgekehrt. Ashley war stark, aber es wäre logistisch unmöglich für sie gewesen, zu ihren Konzerten zu reisen und die nächste Runde der Behandlungen zu absolvieren. Sie musste alles aufgeben. Und das tat sie.«
    Gallo verstummte.
    Mir war ganz schwindlig von der Symmetrie der Gleichung, der ich plötzlich gegenüberstand: auf der einen Seite magisch, auf der anderen wissenschaftlich, ein pulsierender dunkler Mythos und eine hinnehmbare Realität. Cordova wollte seine Tochter unbedingt retten, wie jeder Vater es getan hätte – aber wovor? Vor dem Teufelsfluch oder vor Krebs im Endstadium? Ashleys plötzliche Genialität am Piano – war die durch das Überqueren der Teufelsbrücke ausgelöst oder war sie ein Nebeneffekt der Chemotherapie, die sie als Kind durchgemacht hatte?
    Ich dachte an Beckmans Beschreibung von Ashleys Konzert zurück.
Sie hatte ein Wissen um die Dunkelheit in ihrer extremsten Form.
Doch woher hatte sie dieses Wissen? Weil sie dem Teufel ins Auge geblickt hatte und wusste, dass er ihre Seele holen würde? Oder weil sie im Laufe ihrer endlosen Krankheit immer wieder über den Berg zu sein schien und sich fragte, ob der Tod hinter dem nächsten Gipfel auf sie wartete?
    Diese Erklärungen waren wie zwei Seiten derselben Medaille, und welche Seite ich vorzog, sagte etwas Grundlegendes darüber aus, was für ein Mensch ich war. Vor meinen Nachforschungen zu Ashley hätte ich ohne lange zu Zögern an die Seite geglaubt, für die sich die meisten Menschen entscheiden würden, die logische, rationale, exakte Seite. Doch zu meinem eigenen Entsetzen – wie ein Mann, der plötzlich feststellt, dass er sich selbst nicht mehr wiedererkennt – ließ mich jetzt diese andere, die unmögliche, unlogische, verrückte Seite nicht mehr los.
    Ich wollte nicht daran glauben, wollte nicht akzeptieren, dass Ashley – diese unerschütterliche Präsenz in jeder einzelnen Geschichte, die ich über sie gehört hatte – einfach so vom echten Leben niedergestreckt worden war. Ich wollte eine wildere Erklärung für ihren Tod, etwas Dunkleres, Blutigeres, Wahnsinnigeres – einen
Teufelsfluch
.
    »Schwierig wurde es, als Ashley sich zum zweiten Mal der Behandlung unterziehen sollte«, fuhr Gallo mit ernster Miene fort. »Sie hatte immer

Weitere Kostenlose Bücher