Die amerikanische Nacht
keine Behandlung. Aber natürlich stand ihr Leben auf dem Spiel. Sie war noch ein Teenager. Dieser Junge, den sie für die Liebe ihres Lebens hielt, war ein jugendlicher Krimineller – niemand von uns nahm das ernst. Wer liebt schon wirklich in dem Alter?«
»Romeo und Julia«, sagte ich.
»
Und
Hopper und Ashley. Ashley und ihr Vater hatten einen schrecklichen Streit wegen der Sache. Er steckte sie ins Auto, verriegelte die Türen und sagte ihr, dass sie nach Houston fahren würde, ob sie wolle oder nicht. Sie könne dem Jungen die Wahrheit sagen oder es bleiben lassen. Und Ashley entschied sich, es nicht zu tun. Sie sagte, jemanden zu lieben, der stirbt, sei Folter. Sie wollte, dass der Junge sie hasste, weil der Hass ihn dazu bringen würde, weiterzuziehen, zu vergessen, sie hinter sich zu lassen – das war besser, als durch den Verlust am Boden zerstört zu sein, sich nach etwas zu sehnen, das nicht sein konnte. Und dass die große Liebe sich in etwas anderes verwandelte, in Mitleid oder Abscheu – das konnte Ashley nicht ertragen. Sie brach jeden Kontakt zu dem Jungen ab. Und fuhr nach Houston. Da ist sie fast gestorben, aber mehr an Liebeskummer als an der Krankheit.«
Gallo verstummte. Ihr hartes Profil wirkte jetzt ein kleines bisschen weicher.
»Hat sich Ashley wieder erholt?«, fragte ich nach einer Weile.
»Ja. Sie studierte in Amherst. Im Frühlingssemester musste sie vorzeitig abreisen, weil sie unter Anfällen von Schwindel und Müdigkeit litt. Aber nachdem sie sich in The Peak erholt hatte, konnte sie im zweiten Jahr weiterstudieren. Und es ging ihr gut. Sie machte ihren Abschluss. Und dann, vor sechs Monaten, ging es wieder los.«
»Matilde.«
Gallo nickte nachdenklich, den Blick auf den Sofatisch gerichtet. In meinem Kopf drehte sich alles, weil mir zwei Dinge aufgefallen waren, die sie gesagt hatte: erstens, dass Ashley im ersten Studienjahr in Amherst frühzeitig abgereist war. Dieses Detail wurde auch im
Vanity Fair
-Artikel erwähnt. Beim Lesen hatte ich mich über ihr rätselhaftes Verschwinden gewundert, und jetzt kannte ich den Grund dafür.
Zweitens stellte sich die Frage des zeitlichen Ablaufs.
»Wie lange wurde Ashley in der Uniklinik in Houston behandelt?«, fragte ich.
»Acht Monate. Warum?«
»Und dann ist sie nach The Peak zurückgekehrt?«
Sie nickte langsam, sichtlich verwirrt. »Die Erhaltungstherapie wurde in New York durchgeführt. Warum?«
»Hat die Familie medizinische Geräte für sie bestellt? Einen Rollstuhl? Oder irgendetwas von einer Firma namens Century Scientific?«
»Ich habe alles für sie bestellt. The Peak war ausgestattet wie die Mayo Clinic. Wir hatten alles, damit Ashley sich wohl fühlen konnte und nicht unnötig gestört wurde. Sie wurde rund um die Uhr von Pflegerinnen betreut.«
»Und der Müll wird in The Peak nachts verbrannt?«
»Crowthorpe Falls ist ständig von Cordoviten überlaufen. Das ist ihr Mekka. Sie reisen aus der ganzen Welt an, weil sie hoffen, jemanden zu Gesicht zu bekommen. Das Letzte, was er wollte, war, dass ein Fan den Müll durchwühlte und ein Rezept fand, aus dem Ashleys Krankheit hervorging, und es im Internet ausplauderte. Wir mussten sie schützen. Doch letztendlich ist der Schutz nur ein weiterer Käfig.«
Es passte alles zusammen. Die Verbrennungsöfen, die Nora auf dem Gelände von The Peak gesehen hatte, die Glasampulle mit der Aufschrift
Biogefährdung
, Nelson Garcias fehlgeleitete UPS -Lieferung im Dezember 2004 – all das ergab jetzt Sinn, angesichts von Ashleys Krankheit. Doch der kurze Rausch, den die Aufdeckung dieser letzten paar Rätsel mir verschaffte, machte fast augenblicklich etwas anderem Platz, einem Gefühl der Leere, der Trauer sogar.
Ich fühlte
Enttäuschung
. Ein bisschen ging mir das jedes Mal so, wenn ich am Ende einer Recherche angelangt war, mich umsah und feststellte, dass es keine dunklen Ecken mehr auszuloten gab.
Und doch – diesmal war es anders. Meine Trauer rührte von der Erkenntnis her, dass jeder einzelne
Kirin
tot war. Es hatte sie nie gegeben. Denn auch wenn ich es nicht einsehen wollte, und so sehr ich mir auch etwas Überlebensgroßes für Ashley wünschte, irgendeine wilde Realität, die sich der Vernunft widersetzte, voller Trolle und Teufel, Schatten, die machten, was sie wollten, schwarzer Magie mit der Kraft von Atombomben – ich wusste, dass Inez Gallo die Wahrheit sagte.
Und ihre Wahrheit löschte alles andere aus, holzte diesen magischen und dunklen
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