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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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würden.
    Wir hielten ein Taxi an. Das macht man so am Ende einer Nacht in New York, man drängt sich in eine dreckige gelbe Kutsche mit einem gesichtslosen Chauffeur, der die Fahrgäste, einen nach dem anderen und relativ unversehrt, in ihrer ruhigen Straße absetzt. Die Nacht wurde irgendwo abgelegt, um eines Tages herausgeholt und abgestaubt zu werden und als einer der schönsten Momente in Erinnerung zu bleiben. Wir stiegen ein, Nora in der Mitte, mit ihren erschlafften Rosen auf den Knien. Hopper übernachtete auf der Couch eines Freundes in der Delancey Street.
    »Genau hier«, sagte er zum Fahrer und tippte gegen die Scheibe.
    Das Taxi fuhr rechts ran und Hopper drehte sich zu mir um und reichte mir die Hand.
    »Such weiter nach den Meerjungfrauen«, sagte er mit heiserer Stimme. Er senkte den Kopf, damit ich seine Tränen nicht sah. »Kämpfe für sie.«
    Ich nickte und umarmte ihn so fest ich konnte. Dann küsste er Nora auf die Stirn und stieg aus. Er ging nicht gleich ins Haus, sondern blieb auf dem Gehsteig stehen und sah zu, wie wir davonfuhren, eine dunkle Gestalt im orangefarbenen Licht der Laternen. Nora und ich sahen durch die Heckscheibe – dies war der Film, den wir sehen mussten, wir wollten weder blinzeln noch atmen, denn in wenigen Sekunden würde er nur noch eine Erinnerung sein.
    Er hob die linke Hand, um zu winken. Dann bog das Taxi um die Ecke.
    »Jetzt müssen wir in die Stuyvesant Street, Ecke East Tenth«, erklärte ich dem Fahrer. »In der Nähe von St. Mark’s.«
    Nora sah mich mit großen Augen an.
    »Du hast mir erzählt, wo du wohnst«, behauptete ich.
    »Habe ich
nicht
. Absichtlich nicht.«
    »Doch, hast du, Bernstein. Du wirst im Alter ein bisschen zerstreut.«
    Sie schnaubte und verschränkte die Arme. »Du hast mir nachspioniert.«
    »Nein.«
    »Doch. Ich weiß es.«
    »Bitte. Ich habe Besseres zu tun, als mir um Bernstein Sorgen zu machen.«
    Sie sah mich böse an, doch als das Taxi vor dem Brownstone-Haus anhielt, bewegte sie sich nicht, sondern starrte nur nach vorne.
    »Und du wirst mich nicht vergessen?«, flüsterte sie.
    »Dazu wäre ich gar nicht in der Lage.«
    »Versprochen?«
    »Du solltest dir mal überlegen, mit einem
Ansprechen-auf-eigene-Gefahr
-Aufkleber herumzulaufen.
Sie werden ihr verfallen, ob Sie wollen oder nicht.
«
    »Kommst du zurecht?«
    Sie drehte sich zu mir um. Die Frage war ernstgemeint.
    »Natürlich. Genau wie du.«
    Sie nickte, als wollte sie sich selbst davon überzeugen, und dann lächelte sie plötzlich, als erinnerte sie sich an einen alten Witz von mir, den sie erst jetzt lustig fand. Sie beugte sich zu mir herüber und küsste mich auf die Wange. Dann stieg sie schnell aus dem Taxi, als befürchtete sie, der Zauber würde gleich brechen, knallte die Autotür und lief die Treppe zum Haus hinauf, mit ihrer bleischweren Tasche und den Armen voller Rosen.
    Sie schloss auf und trat ein. Doch dann drehte sie sich langsam um, ihr Haar leuchtete golden durch irgendeine versteckte Lampe hinter ihr.
    Sie lächelte noch einmal. Die Tür ging zu und die Straße lag wieder still da.
    »Das war’s«, flüsterte ich, mehr zu mir selbst als zum Taxifahrer. Ich drehte mich wieder nach vorne und lehnte mich zurück. Als wir davonfuhren, fiel blassgelbes Licht auf mich.

115
    Es war ein glücklicher Zufall. Wie eigentlich alles im Leben.
    Es geschah ein paar Tage nach dem Abend mit Hopper und Nora. Ich erholte mich langsam von meinem Kater und war gerade dabei, mein Büro aufzuräumen. Ich ließ Septimus aus seinem Käfig, damit er zum Training ein bisschen herumfliegen konnte. Als ich das Ledersofa von der Wand abrückte, fand ich dahinter die drei schwarzweißen Umkehrkerzen, die Cleo uns gegeben hatte.
    Ich hatte sie ganz vergessen. Sie mussten unbemerkt hinter das Sofa gerutscht sein, als man das Zimmer verwüstet hatte.
    Wir hatten sie kaum abbrennen lassen, weil wir mit allem anderen so beschäftigt waren.
Was sprach dagegen, das jetzt nachzuholen?
Ich stellte sie auf einen Teller und zündete alle drei an. Als ich Stunden später mit einem Scotch und dem
Wall Street Journal
auf dem Sofa saß, sah ich, dass die Kerzen fast komplett heruntergebrannt waren. Es war nur ein bisschen weißes Wachs übrig. Die erste ging aus. Und dann, als wartete sie auf meine ungeteilte Aufmerksamkeit, glühte der Docht der zweiten einen Moment lang orange auf und erlosch. Die dritte brannte noch, ihre Flamme tanzte, als würde sie sich weigern auszugehen, doch dann

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